Dies ist eine Welt, die ihr Ende gefunden hat. In ihr ist alle Existenz bedeutungslos, nichtig. In dieser kalten, leeren und unbewegten Welt lebt ein Mädchen. Unfähig zu sterben und doch nie wirklich lebendig fristet es ein ewiges Dasein in Einsamkeit. Eines Tages beschloss das Mädchen den Ort ihrer Geburt zu verlassen und sich auf die Suche nach anderem Leben zu machen. Ungewiss, was es jenseits des Horizontes erwarten würde, machte es sich auf und ging gen Osten. Auf seinem Weg begegnete es den unaussprechlichen Wundern und Schrecken dieser Welt, wanderte vom Tal der stürmischen Winde bis zu den Gipfeln des ewigen Eises, stets auf der Suche nach einem Wesen, das ihm glich …
Episode 02 | Of Light & Shadows
[Vor einer Nacht]
Die Nacht hatte die Welt in ein düsteres Nachtgewand gehüllt, in dessen schwarzem Samt die Sterne wie winzige Diamanten funkelten. Der Mond war nicht mehr als eine blutrote Sichel, die Wolken am Himmel versprachen Gewitter und die Straßen war leer, verlassen. Varath, die Hauptstadt Ylesias, wirkte in jener Nacht wie ausgestorben, wie ein lang vergessenes, verlorenes Relikt. Nathan Reed vermochte nicht zu sagen, warum er zu solch später Stunde noch unterwegs war. Nach Verlassen des Krankenhauses fühlte er eine Rastlosigkeit, die er schon so lange nicht mehr verspürt hatte. Er konnte nicht schlafen, selbst wenn er die Medikamente nahm, die ihm verschrieben wurden. Wegwerfen wollte er sie jedoch ebenfalls nicht, sonst würde er die Tabletten nicht überallhin mitnehmen. Tief in seinen Gedanken versunken versuchte er aus den jüngsten Geschehnissen klug zu werden. Als die ersten Regentropfen fielen, knöpfte er sich den ultramarinfarbenen Trenchcoat zu und vergrub sein Gesicht in den weißen Schal. Der Sommer auf Ylesia war zu unbeständig, als dass man ihn so nennen konnte. Die Tage waren angenehm warm und von Sonnenlicht beschenkt, die Nächte dafür kalt und unwirtlich. Donner hallte über die Ebene, so kraftvoll, dass wohl einige Menschen beim Vernehmen des Knalls zusammenzucken würden. Doch für Nate gab es nichts Ohrenbetäubenderes als das monotone, gleichbleibende Piepsen der Beatmungsgeräte, nichts Grauenerregenderes als der emotionsarme Graph des am EKG angezeigten Herzschlags. In einer Welt der statischen Wiedergabe verlor das menschliche Leben jeglichen Wert. Ein Herzschlag war ein Herzschlag, ein Atemzug ein Atemzug, ein Tod ... nur ein Tod. Nur eine weitere Ziffer auf dem Datenblatt der Medizin.
Ein gellender Schrei riss den Jungen aus seinen düsteren Gedanken. Ohne Genaueres zu wissen, begann er zu laufen. Es war ein Instinkt, eine automatisierte Handlung, die sein Körper ohne das Zutun seines Geistes befehligte. Das Prasseln des Regens wurde lauter, bis es heftig zu schütten begann. Binnen Sekunden war Nathan klatschnass, doch das nahm er nur am Rande wahr. Für ihn mutete der Trommelwirbel wie ein Kugelhagel an. Sein Herz schlug schneller, seine Muskeln spannten sich an und als er um die nächste Ecke bog, fand er sich vor einer still gelegten Kaserne wieder. Die Tore wirkten, als hätte sie jemand auseinandergebogen. Überall am Boden lagen Patronenhülsen. Wer auch immer hier war, bevorzugte anscheinend altes Kaliber. Inmitten der Hülsen lagen ein paar Leichen von Offizieren, die allem Anschein nach zusammengesackt waren, nachdem sie einen tödlichen Schlag erlitten hatten. Nathan kniete sich zu einem von ihnen hin und inspizierte den Schädel. Es hatte den Anschein, als wäre er von einem faustgroßen Objekt getroffen worden, das ihm den halben Kopf gebrochen hatte. Blut war aus Auge, Nase, Mund und Ohr gedrungen und bildete eine dunkelrote Lacke, die beinahe vollständig versiegt war. Diese Männer waren wohl schon etwas länger tot. Nate erhob sich augenblicklich, ohne die Leiche eines weiteren Blickes zu würdigen. Just in diesem Augenblick zersplitterte eine Glastüre im dritten Stockwerk, die zu einem Balkon führte, und spuckte einen Mann aus, der mit einem Schrei in die Tiefe stürzte. Nur ein Zentimeter trennten ihn von Nate, doch der Junge starrte ausdruckslos zum Balkon. Er hatte es gesehen, gesehen wie der Brustkorb des Mannes mit einer unglaublichen Wucht zerschmettert wurde, wie die inneren Organe zerquetscht wurden und das Blut förmlich aus diesem Krater schoss. Als bräuchte er Bestätigung rieselte etwas auf ihn herab. Es hatte den leichten, vertrauten Geruch nach Metall und war etwas dickflüssiger als der Regen. Das Blut jenes Mannes hatte Nathans Schal rot gefärbt, als sich ein Schemen am Balkon zu erkennen gab.
Nathan würde diesen Anblick nie vergessen. Es war eine Nacht, in der es Blut geregnet hatte.
[Heute]
Der Wecker in Form eines kleinen gelben Kückens mit Eierschale auf dem Kopf klingelte schrill und versuchte, seine Besitzerin zum Aufstehen zu ermutigen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit fand Kalinas Hand die Stummtaste und lugte verschlafen aus ihrer rosa Bettdecke hervor. Mit einem leisen Gähnen rollte sie sich solange zur Seite, bis sie halb aus dem Bett fiel, und erhob sich wackelig. Mit der Grazie eines Zombies schlurfte sie ins Badezimmer und stieg unter die Dusche. Das warme Wasser erfüllte ihren Körper langsam mit Leben, es spülte ihre Müdigkeit in den Abfluss. Kalina stand still in der Kabine, die Stirn an eine feuchte Fliese gelehnt, und versuchte langsam Herrin ihres Körpers zu werden. Nach genau zehn Minuten drehte sie das Wasser ab und stieg aus der Kabine und betrachtete sich kurz im Spiegel. Sie war etwas kleiner als der Durchschnitt und sie war extrem blass, doch ansonsten war an ihr nichts auszusetzen. Würde sie öfter enganliegende Kleider und ein selbstbewussteres Auftreten an den Tag legen, würden sich einige Männer wahrscheinlich um sie reißen. Sie lächelte schwach, aber sie war immer noch zu müde, um fröhlich zu sein. Sie zog sich langsam an und ging in die Küche, machte sich zwei Toasts mit ein wenig Aufstrich und verließ dann mit der Schultasche im Anschlag die Wohnung. Es war ein schöner, sonniger Sommertag, doch sie hatte wegen des Gewitters kein Auge zumachen können.
Mit einem Seufzen biss sie vom Toast ab und machte sich auf dem Weg in die Schule.
--- Wenn Ihr Kalina ansprechen wollt, nur zu!