Sharnii
Stillstand
The Fortress
1.Kapitel: Die kleine Mutter
Eine Festung. Dunkle Räume. Nur in einem Zimmer brennt noch Licht. Es ist das einzige, dessen Fenster nicht vergittert sind. Zwei Schatten, die sich gegenüber sitzen. Wild gestikulieren. Wie bei einem Tanz. Schattentanz. Wenn man das Zimmer verlässt, in dem die Schattentänzer wohnen, kommt man in einen Gang. Kalte Wände, an denen die graue Tapete abblättert. Die Gänge sind sauber. Wie geleckt. Jedes Zimmer ist nummeriert. Nummern an jeder Tür auf Messingschildern. Hinter den von außen verschlossenen Türen, schlafen Menschen. Menschen wie jeder andere. Was sie jedoch von normalen Menschen unterscheidet, ist nicht nur, dass sie in der „Festung“ leben. Es sind Menschen ohne Gedächtnis, ohne Bindung, ohne Familie und ohne Zukunft.
Die Zeit rast an ihnen vorbei, ohne dass sie sich darum kümmern müssten. Denn sie sind krank. Es wird erzählt, dass niemand sie heilen kann. Doch dazu sind sie ja hier. Jeder aus einem anderen Grund. Alle, die das Dunkel in Form ihrer Vergangenheit eingeholt hat. Alles ist still in dieser Nacht. Die Uhr, die in der großen Halle hängt, ist stehen geblieben. Aber es macht nichts aus. Zeit bedeutet nichts für Menschen ohne Zukunft. Sie brauchen nicht ständig gestresst auf ihre Uhren zu sehen, mit dem sicheren Wissen, dass sie zu spät kommen werden. Sie leben einfach.
Auch in Zimmer 113 sind die Lichter längst ausgegangen. Das Zimmer ist mittelgroß.
Vier Betten, fünf Schränke, ein Fenster durch das der Mond scheint. Vollmond. Auf der Fensterbank sitzt ein Mädchen. Ihr Name ist Mimi. Mimi sieht sich den Vollmond an. Das tut sie immer. Und dabei singt sie leise vor sich hin. Ab und zu blickt sie neben sich und lächelt. „Gefällt es dir, Mutter, gefällt es dir, ja?“ Sie langt neben sich und hält einen Stein in der Hand. Es ist ein roter Stein. Er sieht nicht aus wie etwas Besonderes.
Aber das ist er, weiß Mimi. Sie lächelt immer noch. Zärtlich streicht sie über die glatte Oberfläche. „Es ist spät.“ Sie nickt. Dann blickt sie zu den anderen, die in ihren Betten liegen und träumen. In dem kleinsten Bett liegt Pia. Sie schläft. Ihr kleines, schmales Gesichtchen ist blass, wie alle hier, und der Mond wirft seltsame Schatten auf ihre Decke. Sie ist ganz allein in ihrem Nest. Früher hat in ihren Armen immer ein Teddy gelegen. Dann war sie Nachts nie einsam. Doch plötzlich war der Teddy verschwunden. Seit diesem Tag hat Pia nie wieder ein Wort gesprochen. Mit einem Mal schlägt sie die Augen auf. Sie blickt Mimi an. Ihre großen blauen Augen sehen immer ein wenig erstaunt aus, als könnte sie nicht verstehen, dass sie existiert. Ihre blonden Locken umrahmen ihr Gesicht und lassen sie aussehen wie ein Engel. Mimi lächelt. Leise springt sie vom Fensterbrett und geht zu Pias Bett. Das kleine Mädchen setzt sich auf. Sie sieht Mimi aus ihren großen Augen erstaunt an. „Dummes Mädchen, dabei weißt du, was jetzt kommt.“, sagt Mimi und lächelt sanft. In dem Bett daneben regt sich eine weitere Gestalt. Ein Schatten richtet sich auf. Er ist riesig. Mindestens zwei Meter groß. Zuerst hat Mimi Angst. Das Gesicht, dass sie in der Dunkelheit nicht erkennen kann, kommt ihr schrecklich bekannt vor. Sie drückt sich an Pia und presst sich die Faust in den Mund um nicht zu schreien. Mit weit aufgerissenen Augen sieht sie die Gestalt näher kommen. So war es. Sie erinnert sich. Eines Nachts kam der Mann um sie zu holen. Er tat ihr schlimme Sachen an. Sie war noch ein kleines Kind gewesen. Danach hatte sie sich geweigert zu essen und zu trinken. Tagelang. Wochenlang. Trotzdem lebte sie weiter. Sie wuchs nicht, sie aß nichts. Sie lebte einfach. Darum war sie ja jetzt hier. Halt. Sie schloss die Augen. Kein Mensch darf hier herein kommen. Die Tür war ja verschlossen. Das Fenster vergittert. Niemand darf ihr etwas antun. Das ist doch versprochen worden. Sie öffnet die Augen. Mondlicht fällt auf das Gesicht des Riesen. Mimi seufzt. „Du hast mir einen Schrecken eingejagt, Riese“, sagt sie und blickt erleichtert. Der Angesprochene lässt den Kopf hängen. „Tut mir leid Mimi“, sagt er und fängt an zu weinen. Riese weint oft. Sehr oft. Manche sagen, sein Herz sei zu weich. Die Männer mit den unvergitterten Fenstern sagen, es wäre, weil er früher immer helfen wollte und es nicht konnte. Schließlich war etwas furchtbares passiert. Eine Frau war gestorben wegen ihm. Nicht irgendeine Frau. Seine Mutter ist tot. Das wissen nur die Bewohner des Zimmers 113. Nur ihnen vertraut er. Nur sie wissen es. Nach dem Tod seiner Mutter wollte er nicht mehr leben. Er tat sich Dinge an. Doch dann kamen die Männer und jetzt ist er hier. Ja. Er weint immer noch. Mimi denkt, er müsse so lange weinen, wie er für die Menschen, denen er nicht helfen konnte, geweint hätte, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Mimi weiß nicht, wie lange er noch weinen muss. Aber jetzt ist Pia da. Sie sieht Riese an und ihre Augen sagen „Nicht weinen Riese“. Also weint Riese nicht mehr. Er hört auf Pia. Sie ist für ihn so etwas wie die Mutter, die er verloren hat. Obwohl sie nie ein Wort sagt. Jetzt nimmt sie ihn in den Arm und er kuschelt sich an sie. Pia streichelt seinen Kopf und sieht Mimi an. Ihr Blick ist kein bisschen vorwurfsvoll. Sie weiß ja, dass Mimi nicht ohne Grund hier ist, in der Festung. Sie hat sich nur erschrocken. Pia nickt leicht.
Fast ist es schon lächerlich, wie Riese sich an sie schmiegt. Es fehlt nur noch, dass er den Daumen in den Mund nimmt, denkt Mimi. Manchmal ist sie ein bisschen eifersüchtig. Riese kann immer zu Pia gehen. Sie weist ihn nie ab. Mimi dagegen ist eine Einzelgängerin. Obwohl alle sie mögen. Vielleicht liegt es daran, dass sie die Mutter besitzt. Den kleinen roten Stein. Dadurch bekommt sie mehr Respekt, als sie gerne hätte. Sie hat angefangen mit der Mutter zu reden, um nicht mehr so alleine zu sein. Doch jetzt ist keine Zeit, um eifersüchtig zu sein. Sie steht auf und weckt das Paar. Das Paar, das sind Rosa und Daan. Die beiden schlafen immer zusammen in einem Bett. Sie lieben sich, weiß Mimi. Beide sind jung und schön. Sie haben beide die selben grünen Augen und die schwarzen Locken. Daan lacht viel. Er ist witzig, alle mögen ihn. Und am meisten Rosa.
Rosa ist manchmal seltsam. Dann sieht sie stundenlang starr geradeaus und schweigt. Dann ist sie in ihrer eigenen kleinen Welt. In die flüchtet sie immer, wenn ihre Gedanken zu sehr um ihr totes Kind kreisen. Daan will, dass Rosa endlich glücklich wird. Er mag es nicht, wenn sie in ihrer Welt ist. Dann hat er immer das Gefühl, er würde sie verlieren. Doch jetzt denkt niemand daran. Alle sitzen im Kreis auf Pias Bett. „Dunkel“, bemerkt Rosa und schlägt die Augen nieder. Ihr ist so ziemlich alles peinlich. „Komm spiel mit mir blinde Kuh!“, sagt Daan und lacht. Mimi lacht mit. Mit Daan versteht sie sich am besten. Er hat nie verraten, warum er hier ist. Es ist sein Geheimnis. Nicht einmal Rosa weiß es. Nachdem ihr Lachen verstummt ist, wird es still. Alle sehen Mimi an. Mimi sieht in die Runde. Sie liebt diese Augenblicke der Zusammengehörigkeit. Sanft lächelt sie. Doch nur einer lächelt zurück. Daan. Mimi muss sich ein Seufzen verkneifen. Heute Nacht ist sie unzufrieden mit ihren Leuten. Irgendwas haben sie alle. Irgendetwas bedrückt sie, das kann sie spüren. Doch sie erwidert Daans Lächeln. Dann hebt sie die Hand, in der kühl und glatt der rote Stein liegt. Die kleine Mutter. Gebannt sehen die Bewohner des Zimmers 113 auf den Stein. Mimi murmelt ein paar Worte und schließt halb die Augen. Die anderen tun es ihr nach. Mit glänzenden Augen beobachten sie, wie der Stein zu leuchten beginnt, und die Dunkelheit wenigstens zum Teil vertreibt.
Mimi wird warm. „Mutter“, haucht sie und die Lider fallen ihr zu. Vor ihrem inneren Auge ziehen Bilder vorbei, die sich wie ein schlecht geschnittener Film an einander reihen. Was sie sieht, ist ihre Festung, die auf einem Felsen steht. Die Ebene, die sich darunter scheinbar endlos erstreckt, ist schwarz. Schwarzer, kalter Stein. Sie hat das Gefühl, dieses Bild sollte ihr etwas sagen. Für einen Moment glaubt sie die Antwort zu kennen, doch bevor sie sie greifen und festhalten kann, ist sie ihr entwischt. Ihr Augen sehen kahle Felsen, auf denen nichts wächst. Kein Leben weit und breit. Nur ganz, ganz weit entfernt. Auf einem fernen Kontinent vielleicht leben die Gesunden. Falls es sie noch gibt. Da ist Mimi sich nicht sicher. Ihr eigene schmerzvolle Vergangenheit kommt ihr plötzlich wieder hoch und Mimi beißt sich auf die Lippen, bis sie anfangen zu bluten. „Ich wünsche mir, dass wir geheilt werden“, sagt sie. „Ich wünsche mir, dass wir immer zusammen bleiben“, fährt Daan fort und drückt Rosas Hand. „Ich.. ich wünsche mir, dass Riese nicht mehr weinen muss.“ Rosa wünscht sich immer liebe Sachen. Riese murmelt: „Und ich wünsche, das Pia wieder redet.“ Eine lange Stille folgt darauf, in der Riese gespannt und hoffnungsvoll wartet, während Rosa den Kopf gesenkt hält und Mimi ohnehin weiß, dass von Pia nichts kommen wird. Ein tiefer Seufzer. Rieses Brust hebt und senkt sich und stumme Tränen laufen seine Wangen hinunter. Als Mimi als letzte die Augen öffnet, sieht sie Pia lächeln. Langsam erlischt der Stein und lässt Rieses Tränen glitzern. Lange schweigen sie. Dunkelheit legt sich wie ein schwarzes Tuch über ihre Augen. Doch sie sind daran gewöhnt. In ihren Köpfen ist noch immer das Bild der kalten, toten Erde eingebrannt. Sie sehen das kranke Land, doch sie wissen nicht wie sie helfen können. Sie können nur warten, wie sie es immer getan haben. Diese wenigen Minuten, in denen ihnen warm ist, in denen sie der tristen Gegenwart entkommen können, geben ihnen Kraft. Doch in Mimi ist noch immer das Dunkel. Füllt ihren Kopf, ihr Herz, ihre Lungen, und sie glaubt ersticken zu müssen. Sie wartet, bis es vorbei ist. Sie wartet, wie sie es immer getan hat. Bis jemand kommt, und sie alle aus dem Dunkel befreit. Aus dem Keller, in dem sie leben. Komm, spiel mit mir blinde Kuh.
Ich sag nur PSYCHO


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Euer Cutty-Dingsbums

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