Hallo Tati,
und vielen Dank für deinen Kommentar!

Ich werde gleich den gesamten Rest des Kapitels posten, da das wohl ohnehin unmittelbar zusammengehört...
Zu deinem Kommentar mag ich auch diesmal nicht so viel sagen, weil ich ja nicht mehr verraten will, als das, was die Geschichte selbst über ihren weiteren Verlauf verrät... ^^ Nur was deine Gedanken zur Mutter angeht, darauf möchte ich eingehen. Doch, sie wurde erwähnt!

Das musst du wohl übersehen haben, als du kürzlich noch einmal die Geschichte nach der Person durchsucht hast, auf die ich dich hinwies. Um genau zu sein: Es war nämlich die Mutter, also Spencers Frau, die ich damals meinte als ich sagte, dass ihr Name – sofern man sich in der Literatur etwas auskennt – schon einiges über unsere Geschichte verrät... ^^ Sie wird aber tatsächlich nur ein einziges Mal kurz erwähnt, und zwar am Ende von Seite 27 in dem PDF-File des ersten Teils. Ich zitiere es hier einfach mal:
“Sir Spencer, bitte verzeihen sie meine Neugierde, aber wird denn ihre Frau gar nicht mit uns essen?”, fragte ich.
Da veränderte sich seine Miene, Heiterkeit wich tiefster Melancholie. “Meine Frau...”, sagte
er voller Schwermut. “Sie ist bereits vor dreizehn Jahren, bei der Geburt meiner jüngsten
Tochter, verstorben.”
Obwohl ich sie nicht im entferntesten gekannt, traf mich dieser Satz sehr hart. Denn allem
Anschein nach hatte Spencer seinen Kummer, seine gesamte Trauer, in diese wenigen Worte
verbannt. Noch bevor ich irgendetwas antworten konnte, sagte er: “Ich denke noch sehr oft an
sie, fast täglich. Annabel ward sie genannt und war für mich lange Zeit alles auf der Welt,
endlose Liebe lies ich ihr zuteil werden. Und sie mir genauso. Mehr noch verehrte ich nur
unsere Töchter, die prächtigsten von allen Geschenken, die sie mir machte. Und diese
wiederum waren es, welche mir in der Zeit nach Annabels Tode unvergleichlichen Trost
spendeten. Hätte ich sie nicht gehabt, ich wäre zugrunde gegangen.”
Spencer machte eine Pause, was mir Gelegenheit gab, ihm mein Bedauern auszusprechen:
“Das tut mir leid... Doch davon wusste ich nichts, Entschuldigung!”
“Trauern sie nicht, Herr Mann!”, sagte er und formte seine rechte Hand zur Faust. “Auch ich
musste bereits erfahren, dass dies der völlig falsche Weg ist. Wenn ich heute zurückdenke an
das Leben mit ihr, dann trauere ich nicht, ich freue mich! Und ich bin dankbar, für die Zeit,
welche ich mit ihr verbringen konnte, dankbar für alles, was sie mir gegeben!”
Dann wurde er still und ich kam nicht umher seinen Worten, Worte die doch so viel Wahrheit
enthielten, mit einem stummen Nicken beizustimmen.
Gut, aber mehr sage ich dazu nicht! ^^ Stattdessen weiter mit dem, in gewisser Weise, Höhepunkt des sechsten Kapitels. Ist wieder viel zum Rätseln drin, viele Andeutungen und kleinere Anspielungen. Jetzt erst fällt mir zudem auf, dass der Teil die von dir angesprochene Thematik von "nach dem Tod" noch etwas fortführt. In jedem Fall, viel Spaß damit!
--------------------------------------------
Fürwahr, es waren
Wundernächte, wie ich sie mit Snow erlebte. Mit dem Fortschreiten der kalten Jahreszeit wurde uns die Bibliothek ein zweites Wohnzimmer und die Nacht eine Zeit des gemeinsamen Wachträumens, versunken in Büchern und in des anderen Augen. Ich weiß nicht warum es uns nie auch nur in den Sinn kam, uns in einem unserer eigenen Zimmer zu treffen, wo wir es gemütlicher und auch intimer hätten haben können. Mit Secret und Silence hatte ich genau das getan. Stattdessen umkreisten Snow und ich einander in dieser Bibliothek. Die Regale mit ihren tausenden und abertausenden Büchern verwandelten sich in ein Labyrinth ohne Ausweg – nicht im materiell-räumlichen Sinne, so groß war der Raum dann doch nicht und zudem sehr aufgeräumt – sondern die Bücher selbst, die Inhalte, ja schon die Farben und die Vielgestalt ihre Einbände waren es, die uns hypnotisierten.
Dazu mochte auch Spencers eigenwillige Anordnung der Bücher beigetragen haben. Wie ich vor langer Zeit bereits erwähnte, schien diese rein thematischer Natur zu sein: Weder Erscheinungsjahr, noch Autor, noch literarische Gattung oder Sprache – geschweige denn die alphabetische Ordnung der Buchtitel schienen irgendeinen Einfluss zu haben. Wie ich aber auch schon sagte, konnte man all dieses in umfangreichen Katalogen nachschlagen und somit sehr wohl gezielt nach Büchern suchen.
Die anstelle dessen zu erwartenden inhaltlichen Zusammenhänge zwischen beieinander stehenden Büchern konnte ich zwar nicht immer gleich erkennen, doch dass es solche geben musste, wurde mir bald klar. Wenn man auf nahe beieinander stehende Bücher zurückgriff, schien man sich wie auf der Bahnen einer Spirale zu bewegen: mal einem unbestimmten, sich fortwährend verdichtendem Zentrum zu, und mal nach außen, sich verlierend in einem immer dünner werdenden Raum. Und manchmal gelangte gelangte man wie von Zauberhand zurück an den Anfang – hätte meinen können, die Bibliothek durchschritten zu haben und in einem ganz anderen Teil angekommen zu sein, nur um dann festzustellen, dass man genau hier seine Reise begonnen hatte.
Diese besondere Anordnung weckte unweigerlich den Entdeckergeist, verstärkt natürlich dadurch, dass der Inhalt der Bibliothek so unglaublich gut ausgewählt war, dass man – soweit ich als Laie das einzuschätzen vermag – keine in sämtlichen Aspekten belanglosen Bücher darunter fand. Hatte man in ein Buch von irgendeiner Position der Bibliothek hineingelesen, so wollte man unweigerlich wissen, auf welches Buch man wohl einen Regalmeter horizontal rechts davon stieße. Oder aber einen Meter vertikal darüber. Oder einen Meter vertikal über dem, dass sich einen Meter horizontal rechts vom ersten befand. Und schließlich kamen einem ganz neue Ideen: Welches Buch mag sich wohl im anderen Regal, am genau gegenüberliegenden Ort auf der anderen Seite des Durchganges befinden. Oder aber „hinter“ dem Buch, also an der entsprechenden Stelle des Regals, das Rücken an Rücken zum ersten stand. Und gab es womöglich spezielle Regeln, die bestimmten, wann ein Buch hoch oben und wann es tief unten in einem Regal stand? Und welche Bücher in der Bibliothek befanden sich wohl am weitesten voneinander entfernt?
Wenn wir auf irgendeine solche Weise (un)verbundene Bücher dann in den Händen hielten, fragten wir uns als nächstes, ob es zwischen ihnen tatsächlich Verbindungen gab – oder doch zumindest Gegensätze. In den meisten Fällen konnten wir entweder das eine oder das andere finden, manchmal auch nicht, doch in keiner der beiden Situation brachte uns das irgendeine Gewissheit: Hatten wir die Gemeinsamkeiten, die da sein
sollten, nur nicht finden können? Oder verwirrender noch: Waren die Gemeinsamkeiten, die wir gefunden hatten, tatsächlich diejenigen, auf denen die spezielle Ordnung der Bibliothek ursächlich beruhte? Waren sie nicht vielmehr unsere ganz persönlichen Entdeckungen (oder gar Einbildungen – begründet in dem Wunsche, etwas finden zu
wollen). Was hatte die Anordnung der Bücher anfänglich bestimmt und welche neuen Verbindungen waren wohl das
Resultat dieser Anordnung? Ich möchte sagen: Führte eine bestimmte und bewusste Stellung der Bücher womöglich dazu, dass sich ganz von selbst weitere Muster auftaten? Wie etwa eine typische Ansammlung von Büchern der Epoche der Romantik unweigerlich auch in einer besondere Verdichtung von Lyrik resultieren würde (um ein sehr primitives Beispiel anzuführen; die Fundamente der Bibliothek Spencers reichten freilich weitaus tiefer).
Und so irrten wir Nacht für Nacht durch dieses Labyrinth. Ein Raum von ein paar hundert Quadratmetern, dessen Sammlung tausende andere Räume beherbergte, abertausende Personen, hunderte Welten; alles dies geboren aus den individuellen Gedanken und Emotionen von wieder tausenden schreibenden Seelen – ihrerseits so oft verbunden und sich beeinflussend, entweder im Leben oder durch ihre Bücher.
Fräulein Snow lehrte mich zu verstehen, dass wir selbstverständlich nicht allein in dieser Bibliothek waren, sondern dass tausende andere uns Gesellschaft leisteten, zu uns sprachen und uns antworteten, welche Fragen wir auch hatten. Was mir anfangs als ein auswegloses Labyrinth erschienen war, wurde mehr und mehr zu einem kleinen All, das Snow und ich in der Rolle zweier Sternenreisender durchfuhren. Das Fräulein Spencer navigierte und ich folgte, doch in der Regel ließen wir uns schwerelos treiben, um nur hier und da nach Sternen in den verschiedensten Farben, Größen und Temperaturen zu greifen. Ja, einmal mehr umgaben uns die Sterne, diese ewigen, und doch nie wirklich ewigen, Sterne; die selben, die auch all die Schreiber dieser Bücher, die uns umringten, schon gesehen hatten, und deren fernes, verlockendes Licht so tief in die Seelen von uns Menschen geschrieben ist...
Und so wie wir in die Vergangenheit schauen, wenn wir zum Nachthimmel und den Sternen blicken, so wie das Licht von einigen von ihnen uns erst dann erreicht, wenn sie bereits verglüht sind, so waren es Tote, in der Mehrzahl Tote, die uns in dieser Bibliothek umgaben, doch deren innerste, tiefste Gedanken in ihren Büchern weiterhin lebendig waren. Einzelne Bücher glichen Planeten, die um eine gemeinsame, mächtigere Sonne kreisten, in ihrer Bahn gehalten von einer Gravitation, die aus den Mitteilungen zwischen den Zeilen ihre Stärke bezog. Diese Sonnensysteme formten Galaxien – und dazwischen leuchteten Pulsare, Spiralnebel, tanzende Zwillingssterne, elektrisierende weiße Zwerge und verheerende Supernoven. Sternenreisende müssen achtsam sein: In einer Nacht geschah es, dass uns ein schwarzes Loch zu verschlingen drohte und wir uns aus einem schwülen, furchterregendem Dickicht mitten im Herzen der Dunkelheit wieder ans Licht kämpfen mussten. „...the mind of man es capable of anything – because everything is in it, all the past as well as all the future“, las Snow mit ruhiger, präziser Stimme vor.
Doch immer wieder gab es Bücher, Seiten, Sätze, Worte gar, die funkelten. Ein Buch erzählte von einem Fabelwesen, vom letzten seiner Art, und ein schlichter Satz ist mir in besonderer Erinnerung geblieben, und mit ihm Snows Stimme, wie sie geklungen hatte, als sie ihn vorlas. Noch heute, nach vierzehn einsamen und nachdenklichen Jahren, rührt mich die Erinnerung daran zu Tränen:
„In seinem Wald herrschte immer Frühling,
weil es dort lebte.“
----------------------------------
Und damit wäre dieses, wie angekündigt, ziemlich literarische Kapitel auch erst einmal abgeschlossen.
Bis bald! Ich hoffe, dass ich bis dahin auch die Fortsetzung schon fertig habe. Hab zwar schon die Grundzüge eines siebten Kapitels geschrieben, bin aber gerade noch am Überlegen, ob ich nicht vorher etwas anderes einschiebe. Mal schauen... ^^ In jedem Fall muss ich erstmal noch eine Hausarbeit fertigstellen, bevor ich mich wieder voll und ganz SSS&S widmen kann...

Aber auf deinen Kommentar, vielleicht auch bzgl. Annabel, bin ich sehr gespannt! ^^