Yin
this is your story
Hi zusammen. ^^
Seit Langem hab ich mal wieder was zu Papier gebracht ... Wäre nett, wenn ihr mal nen Blick drauf werft und mir mitteilt, was ihr davon haltet. ;-)
Autor: Yin
Teile: nur den
Genre: schwer ... Geheimnisvolles
alles frei erfunden
Sein Gesicht zuckte unter ihrer Berührung leicht zusammen, aber er wachte nicht auf.
Jenna kicherte leise. Sie war schrecklich nervös, und wusste nicht, wie mit solch einem Gefühl umzugehen war. Dieser Kerl warf sie völlig aus der Bahn. Es fühlte sich an wie mit geschlossenen Augen über die Autobahn zu rasen. Beängstigend und erregend zugleich.
Was sie nun tun würde, war etwas Besonderes. Etwas Persönliches, das nur sie ihm geben konnte. Keines dieser dummen Blondchen in der Schule wäre je dazu in der Lage und auch sonst kein Mensch auf der Welt.
Denn keiner war wie sie.
Jennas Hände betasteten behutsam die Formen seinen Gesichts, die stoppeligen Wangen, die Adlernase, die schmalen Lippen, bis ihre Handflächen links und rechts an seinen Schläfen innehielten. Noch einmal atmete sie tief durch und rückte seinen Kopf auf ihrem Schneidersitz zurecht, wobei die alte Ledercouch unter ihnen knautschte.
Okay, ruhig jetzt. Sie wollte nichts falsch machen. Wenn Alex aufwachte, konnte sie die Überraschung vergessen. Jenna schloss die Augen und konzentrierte sich.
Es dauerte nur wenige Sekunden, doch danach fühlte sie sich ausgelaugt und zittrig. Kurz verharrten ihre Hände noch auf seinem Gesicht. Jenna genoss den Moment. Sie waren sich so nah. Nie hätte sie geglaubt, dass auch ihr so etwas einmal passieren könnte. `Liebe` war nur das kitschige Idioten-Wort dafür. Mit den Fingern strich sie sich die langen Haare hinter das Ohr. Was sie und Alex hatten, war so viel mehr – so viel größer. Zum ersten Mal fühlte sie sich gesund. Die Schnitte in ihren Armen heilten, sie soff nicht mehr so viel. Ging wieder regelmäßiger zur Schule.
`Wenn Karin das noch erlebt hätte`, dachte Jenna bitter. Ihre Mum hatte immer nur einen Wunsch gehabt: `Sei doch einfach – normal, Jenna!` Ach so! Guter Tipp.
Ist es denn normal, dass du diese ganzen Pillen schluckst, die neben deinem Bett stehen, Mum? Du musst es ja wissen. Ist es normal, jeden Abend nen anderen Macker mit ins Bett zu nehmen? Ist es normal, die ganze Nacht zu heulen und mit Leuten zu reden, die gar nicht da sind und ihnen zu erzählen, dass ich dir Angst mache, buhuuu, so furchtbare Angst?
Oder sich eines Morgens auf die Gleise zu legen, ohne Abschiedsbrief, und seine Gedärme überall zu verteilen. Ist das normal?
Was ihre Mutter einfach nicht kapiert hatte – was niemand kapierte, der von Jennas `Abnormalität` wusste – war, dass sie es nicht anders wollte. Kein Teil des gesichtlosen Einheitsbreis zu sein, sah sie als Glück an und nicht als Mangel. Und genau das tat Alex auch. Er wollte sie nicht verändern, wollte es nicht verstehen, ließ sich nicht von ihrem Zynismus und ihrer dunklen Aura abschrecken. Zumindest behauptete er, sie habe eine dunkle Aura und ihr gefiel das.
Jenna küsste seine geschlossenen Augen, bettete seinen Kopf auf das Polster und stand auf. Aus Alex Jacke, die über dem Wohnzimmerstuhl hing, fischte sie eine Zigarette und zündete sie an. Beim Rauchen sog sie seinen Anblick in sich auf. Wie er dort lag, die langen Beine ausgestreckt und ohne Schuhe. Der linke Arm hing leblos von der Couch herab, die Hand berührte den weißen Teppich. Auf seiner Wange entdeckte Jenna eine einzelne Träne. Der unerwartete Anblick versetzte ihr einen heftigen Stich. Sie nahm die Zigarette zwischen die Lippen, zog ihren Ärmel über die Hand und tupfte die Träne weg.
Diesmal weckte ihn die Berührung. Jenna lächelte, kniete sich hin und setzte ihm die Zigarette an die Lippen. Alex nahm einen Zug und wälzte sich auf die Seite.
„Die Couch krächzt ja ganz schön“, sagte er mit seiner tiefen Stimme und strich mit dem Handrücken über ihre Wange. „Meine Hand ist eingeschlafen.“
„Böse Hand“, sagte Jenna und lehnte den Kopf an seinen. Nach einem tiefen Zug wollte er die Zigarette an sie weitergeben, aber Jenna lehnte ab.
„Wie fühlst du dich?“, fragte sie.
Alex drehte sich auf den Bauch und betrachtete sie, die Kippe im Mund und mit der anderen Hand die eingeschlafene knetend. „Wieso fragst du?“
Nun kam die Aufregung zurück. Jenna zupfte an den Teppichfransen herum und überlegte, ob es der richtige Moment war, es ihm zu sagen.
„Weil du das einzig Gute bist, was mir bisher passiert ist. Abgesehen von Kippen und Muschelrauschen.“
„Oh, herzlichen Dank. Mit Muschelrauschen kann ich leben, aber Kippen?“
„Tja – du musst dich noch ein bisschen mehr anstrengen, um die Glimmstängel auszustechen.“
„Ach ja?“, lachte er und begann ihren Nacken zu kraulen. „Was wäre dazu nötig?“
Alex sah sie so durchdringend und ehrlich an, dass ihr schwindelig wurde. Jenna nahm ihren Mut zusammen.
„Ich habe etwas für dich getan, als du geschlafen hast.“
„Wirklich?“, grinste er. „Hättest du damit nicht warten können, damit ich auch was davon habe?“
„Sei mal nen Moment ernst, ja? Es ist echt wichtig.“
„Okay.“ Alex setzte sich auf und klopfte auf den frei geworden Platz neben sich. „So kenn ich dich ja gar nicht. Muss ich mir Sorgen machen?“
„Jetzt nicht mehr“, sagte sie leise und hatte gleichzeitig das Gefühl, einen großen Fehler zu begehen.
„Wie meinst du das?“
Jenna stand vom Fußboden auf und setzte sich neben ihn auf die Couch. Ohne es zu merken hatte sie die Kruste an ihrem Unterarm bearbeitet und spürte nun etwas Feuchtes an den Fingerspitzen. „Ich kann Erinnerungen nehmen.“
In gespielter Überraschung riss Alex die Augen auf. „Was, echt? Hab ich ganz vergessen.“
„Ich hab dich doch gebeten, ernst zu sein, oder?“ Langsam wurde sie wütend. „Mir ist es grad nämlich todernst.“
Alex hob entschuldigend die Hände. „Wow. Tut mir Leid. Also, du kannst den Leuten Erinnerungen wegnehmen, was extrem abgefahren ist, aber ich hab mich schon fast dran gewöhnt.“
„Als damals meine Mutter starb, da hab ich versucht, sie aus meinem Gedächtnis zu löschen. Alles roch nach ihr zuhause. Alles erinnerte mich irgendwie an sie. Sie war einfach überall und ich war so wütend, weil sie so feige gewesen ist! Wir haben uns nicht gut verstanden, aber ich hab mir nie gewünscht, sie wär tot – nicht wirklich.“
„Ich weiß.“ Alex Hand auf ihren Rücken tröstete sie nicht und Jenna beeilte sich, weiterzusprechen.
„Aber es hat nicht funktioniert. Ich habs immer wieder versucht, aber nur Nasenbluten und Kopfschmerzen gekriegt. Bin ohnmächtig geworden und als ich wieder aufgewacht bin, war sie immer noch in meinem Kopf. Es war, als hätte sie sich in meinen Verstand gefressen.“
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Man wünscht sich so sehr, vergessen zu können, damit der Schmerz weggeht. Ich habs mir sehr gewünscht. Jede Erinnerung kann ich löschen, verfälschen, hinbiegen, wie ich es will. Bei meiner Mutter habe ich`s oft genug gemacht. Aber auf meine eigenen hab ich keinen Einfluss.“
Alex Hand war nicht mehr auf ihrem Rücken. In sein Gesicht war Unsicherheit getreten und er schien in Gedanken versunken zu sein.
„Was ich für dich getan habe-“
„Warte mal“, sagte Alex und stand plötzlich auf. Er war blass. Die Zigarette in seinen Fingern dampfte gleichgültig. „Hast du in meinem Gehirn rumgewühlt oder was? Was hast du gemacht, Jenna?“
Ihr Herz raste. „Nichts! Ich hab nicht `gemacht`.“
„Was denn jetzt? Ich versteh langsam gar nichts mehr.“
„Alex.“ Es war ein Alptraum. So lief das nicht. Ganz und gar nicht. Täuschte sie sich so sehr in ihm? Wusste er es tatsächlich nicht zu würdigen?
„Was? Was ist los?“ Seine Fäuste ballten sich, bevor ihm die Zigarette wieder einfiel. Fahrig suchte er nach einem Aschenbecher und zerdrückte sie einfach auf der Tischplatte, als er keinen fand.
„Du hattest einen kleinen Bruder,“ begann Jenna. „Er ist gestorben, letztes Jahr.“
Sie konnte sehen, wie er nachdachte und wie seine Gesichtszüge entgleisten, als er feststellte, dass er sich nicht erinnerte. Natürlich nicht.
„Einen Bruder? Aber-“
„Die Erinnerung ist weg. Es fühlt sich an, als wäre dort nie jemand gewesen, stimmt`s? Weiß und leer. So hab ich es mir zumindest immer vorgestellt.“
„Du sagst, ich hatte einen Bruder?“ Wieder dachte er nach. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. „Wie sah er aus?“
„Das ist doch unwichtig. Du kannst ihn vergessen! Du kannst das, was ich nie konnte. Und es ist mein Geschenk an dich, weil ich dich-“
„Nein!“ Jenna war aufgestanden, doch er wich vor ihr zurück. „Sag das bloß nicht. Ich hatte wirklich einen Bruder? Wie alt war er?“
„Lass es doch sein-“
„Wie alt war er?!“
Ihre Eingeweide krampften sich zu einem eisigen Klumpen zusammen. „Acht.“
„Acht“, flüsterte Alex. Tränen standen in seinen glänzenden, grünen Augen. „Und wie ist er gestorben?“
„Das werde ich dir nicht sagen“, presste Jenna hervor und versuchte noch einmal, sich ihm zu nähern. Alex schüttelte den Kopf.
„Komm nicht näher, ich garantiere für nichts.“
„Vergiss ihn doch einfach“, sagte sie beschwörend. „Ich verstehe dich nicht, wieso kannst du dich nicht darüber freuen? Wieso bist du so undankbar?“
Alex verächtliches Lachen ging ihr durch Mark und Bein. „Undankbar. Jenna, du bist abartig.“
Ihre Lippen bebten. „Nenn mich nicht so.“
„Du hast mich meinen Bruder vergessen lassen! Was Verdrehtes bist du? So eine Art Hexe oder was? Denkst du denn, dass da nur schlechte Erinnerungen waren? Dass in den ganzen acht Jahren nie was Schönes passiert ist? Er hatte Geburtstag! Vielleicht hab ich ihm das Laufen oder Schwimmen beigebracht, aber ich kann mich an nichts erinnern, es ist alles weg!“
„Ich wollte nur, dass es dir besser geht“, sagte Jenna tonlos. Sie fühlte sich dünn und steif, als könne ein Lufthauch sie zerbrechen und wegwehen.
Alex betrachtete sie einen Moment, verzog dann das Gesicht und ging seine Jacke holen.
„Du gehst?“
„Ich halt`s hier nicht mehr aus.“
„Warte!“, sagte sie. „Wir gehen zusammen raus und reden darüber, ich kann es dir nochmal erklären und-“
„Es gibt nichts mehr zu bereden. Und ich halte dich nicht mehr aus, falls du es nicht gemerkt hast, Jenna.“ Sein Blick war abweisend und kalt, das Gesicht kalkweiß. „Halt dich von mir fern. Hol dir irgendwo Hilfe oder - keine Ahnung.“
„Du lässt mir einfach stehen?“, keuchte Jenna, und Alex, der schon neben der Tür stand, drehte sich halb um.
„Ja.“
„Das kannst du nicht.“
Darauf bekam sie keine Antwort. Alex sah zu Boden, zögerte noch und wandte sich dann zum Gehen.
„Das kannst du nicht“, wiederholte Jenna. Ihre Fingernägel bohrten sich in die Handflächen und sie ließ beide Fäuste auf die Glasplatte des Wohnzimmertisches knallen.
„Das wirst du nicht mit mir machen! Alex!“
Keine Antwort. Aber er war noch nicht gegangen, das spürte sie. Er stand in der Nische zwischen Wohnzimmer und Haustür, wo sie ihn von hieraus nicht sehen konnte.
„Willst du wissen, was mit deinem Bruder war, du kleiner Pisser? Es war deine Schuld, dass er abgekratzt ist! Du hättest auf ihn aufpassen sollen, aber du hast es nicht hingekriegt, du mieser Versager!“
Jenna lauschte mit hämmerndem Herzen. Die Tür wurde geöffnet und sie sprang auf.
„Alles hätte ich dir aus dem Kopf saugen sollen, dann hättest du nur noch sabbern und flennen können bis zum Ende deines sinnlosen Leben! Ich hasse dich! ICH HASSE DICH!“
Ohne ein Wort schloss Alex von außen die Tür hinter sich. Jennas Schreie hallten durch den Flur, als würde das Gebäude mit ihr fühlen. Fluchtartig stürzte er die Treppen hinunter, immer drei auf einmal nehmend, während ihm die Tränen über die Wangen liefen. Draußen vergaß er den Wagen vor der Tür und rannte.
Irgendwann konnte Jenna nicht mehr schreien und wurde still. Sie legte beide Hände an die Schläfen und konzentrierte sich.
Und als es nicht klappte, versuchte sie es erneut. Die Äderchen in Nase und Augen platzten. Sie waren immer noch da! Direkt hinter den Schläfen, dort saß Alex zusammen mit ihrer Mutter und zusammen lachten sie über diese Abnormale, diese Abartige, diese ... aus ihren Ohren lief etwas Warmes.
„Haut ab!“, wollte sie rufen, doch heraus kam nur ein Nuscheln, das sie selbst nicht verstand.
Haut endlich ab! Ihr Mund gehorchte nicht mehr. Das Gesicht war in dem weißen, flauschigen Teppich vergraben, den Alex im Schlaf noch berührt hatte.
Dieser Name!
Ihre Hand berührte ihre Schläfe ein letztes Mal. Um den Namen zu vertreiben.
Um den Namen
Seit Langem hab ich mal wieder was zu Papier gebracht ... Wäre nett, wenn ihr mal nen Blick drauf werft und mir mitteilt, was ihr davon haltet. ;-)
Autor: Yin
Teile: nur den
Genre: schwer ... Geheimnisvolles
alles frei erfunden
Sein Gesicht zuckte unter ihrer Berührung leicht zusammen, aber er wachte nicht auf.
Jenna kicherte leise. Sie war schrecklich nervös, und wusste nicht, wie mit solch einem Gefühl umzugehen war. Dieser Kerl warf sie völlig aus der Bahn. Es fühlte sich an wie mit geschlossenen Augen über die Autobahn zu rasen. Beängstigend und erregend zugleich.
Was sie nun tun würde, war etwas Besonderes. Etwas Persönliches, das nur sie ihm geben konnte. Keines dieser dummen Blondchen in der Schule wäre je dazu in der Lage und auch sonst kein Mensch auf der Welt.
Denn keiner war wie sie.
Jennas Hände betasteten behutsam die Formen seinen Gesichts, die stoppeligen Wangen, die Adlernase, die schmalen Lippen, bis ihre Handflächen links und rechts an seinen Schläfen innehielten. Noch einmal atmete sie tief durch und rückte seinen Kopf auf ihrem Schneidersitz zurecht, wobei die alte Ledercouch unter ihnen knautschte.
Okay, ruhig jetzt. Sie wollte nichts falsch machen. Wenn Alex aufwachte, konnte sie die Überraschung vergessen. Jenna schloss die Augen und konzentrierte sich.
Es dauerte nur wenige Sekunden, doch danach fühlte sie sich ausgelaugt und zittrig. Kurz verharrten ihre Hände noch auf seinem Gesicht. Jenna genoss den Moment. Sie waren sich so nah. Nie hätte sie geglaubt, dass auch ihr so etwas einmal passieren könnte. `Liebe` war nur das kitschige Idioten-Wort dafür. Mit den Fingern strich sie sich die langen Haare hinter das Ohr. Was sie und Alex hatten, war so viel mehr – so viel größer. Zum ersten Mal fühlte sie sich gesund. Die Schnitte in ihren Armen heilten, sie soff nicht mehr so viel. Ging wieder regelmäßiger zur Schule.
`Wenn Karin das noch erlebt hätte`, dachte Jenna bitter. Ihre Mum hatte immer nur einen Wunsch gehabt: `Sei doch einfach – normal, Jenna!` Ach so! Guter Tipp.
Ist es denn normal, dass du diese ganzen Pillen schluckst, die neben deinem Bett stehen, Mum? Du musst es ja wissen. Ist es normal, jeden Abend nen anderen Macker mit ins Bett zu nehmen? Ist es normal, die ganze Nacht zu heulen und mit Leuten zu reden, die gar nicht da sind und ihnen zu erzählen, dass ich dir Angst mache, buhuuu, so furchtbare Angst?
Oder sich eines Morgens auf die Gleise zu legen, ohne Abschiedsbrief, und seine Gedärme überall zu verteilen. Ist das normal?
Was ihre Mutter einfach nicht kapiert hatte – was niemand kapierte, der von Jennas `Abnormalität` wusste – war, dass sie es nicht anders wollte. Kein Teil des gesichtlosen Einheitsbreis zu sein, sah sie als Glück an und nicht als Mangel. Und genau das tat Alex auch. Er wollte sie nicht verändern, wollte es nicht verstehen, ließ sich nicht von ihrem Zynismus und ihrer dunklen Aura abschrecken. Zumindest behauptete er, sie habe eine dunkle Aura und ihr gefiel das.
Jenna küsste seine geschlossenen Augen, bettete seinen Kopf auf das Polster und stand auf. Aus Alex Jacke, die über dem Wohnzimmerstuhl hing, fischte sie eine Zigarette und zündete sie an. Beim Rauchen sog sie seinen Anblick in sich auf. Wie er dort lag, die langen Beine ausgestreckt und ohne Schuhe. Der linke Arm hing leblos von der Couch herab, die Hand berührte den weißen Teppich. Auf seiner Wange entdeckte Jenna eine einzelne Träne. Der unerwartete Anblick versetzte ihr einen heftigen Stich. Sie nahm die Zigarette zwischen die Lippen, zog ihren Ärmel über die Hand und tupfte die Träne weg.
Diesmal weckte ihn die Berührung. Jenna lächelte, kniete sich hin und setzte ihm die Zigarette an die Lippen. Alex nahm einen Zug und wälzte sich auf die Seite.
„Die Couch krächzt ja ganz schön“, sagte er mit seiner tiefen Stimme und strich mit dem Handrücken über ihre Wange. „Meine Hand ist eingeschlafen.“
„Böse Hand“, sagte Jenna und lehnte den Kopf an seinen. Nach einem tiefen Zug wollte er die Zigarette an sie weitergeben, aber Jenna lehnte ab.
„Wie fühlst du dich?“, fragte sie.
Alex drehte sich auf den Bauch und betrachtete sie, die Kippe im Mund und mit der anderen Hand die eingeschlafene knetend. „Wieso fragst du?“
Nun kam die Aufregung zurück. Jenna zupfte an den Teppichfransen herum und überlegte, ob es der richtige Moment war, es ihm zu sagen.
„Weil du das einzig Gute bist, was mir bisher passiert ist. Abgesehen von Kippen und Muschelrauschen.“
„Oh, herzlichen Dank. Mit Muschelrauschen kann ich leben, aber Kippen?“
„Tja – du musst dich noch ein bisschen mehr anstrengen, um die Glimmstängel auszustechen.“
„Ach ja?“, lachte er und begann ihren Nacken zu kraulen. „Was wäre dazu nötig?“
Alex sah sie so durchdringend und ehrlich an, dass ihr schwindelig wurde. Jenna nahm ihren Mut zusammen.
„Ich habe etwas für dich getan, als du geschlafen hast.“
„Wirklich?“, grinste er. „Hättest du damit nicht warten können, damit ich auch was davon habe?“
„Sei mal nen Moment ernst, ja? Es ist echt wichtig.“
„Okay.“ Alex setzte sich auf und klopfte auf den frei geworden Platz neben sich. „So kenn ich dich ja gar nicht. Muss ich mir Sorgen machen?“
„Jetzt nicht mehr“, sagte sie leise und hatte gleichzeitig das Gefühl, einen großen Fehler zu begehen.
„Wie meinst du das?“
Jenna stand vom Fußboden auf und setzte sich neben ihn auf die Couch. Ohne es zu merken hatte sie die Kruste an ihrem Unterarm bearbeitet und spürte nun etwas Feuchtes an den Fingerspitzen. „Ich kann Erinnerungen nehmen.“
In gespielter Überraschung riss Alex die Augen auf. „Was, echt? Hab ich ganz vergessen.“
„Ich hab dich doch gebeten, ernst zu sein, oder?“ Langsam wurde sie wütend. „Mir ist es grad nämlich todernst.“
Alex hob entschuldigend die Hände. „Wow. Tut mir Leid. Also, du kannst den Leuten Erinnerungen wegnehmen, was extrem abgefahren ist, aber ich hab mich schon fast dran gewöhnt.“
„Als damals meine Mutter starb, da hab ich versucht, sie aus meinem Gedächtnis zu löschen. Alles roch nach ihr zuhause. Alles erinnerte mich irgendwie an sie. Sie war einfach überall und ich war so wütend, weil sie so feige gewesen ist! Wir haben uns nicht gut verstanden, aber ich hab mir nie gewünscht, sie wär tot – nicht wirklich.“
„Ich weiß.“ Alex Hand auf ihren Rücken tröstete sie nicht und Jenna beeilte sich, weiterzusprechen.
„Aber es hat nicht funktioniert. Ich habs immer wieder versucht, aber nur Nasenbluten und Kopfschmerzen gekriegt. Bin ohnmächtig geworden und als ich wieder aufgewacht bin, war sie immer noch in meinem Kopf. Es war, als hätte sie sich in meinen Verstand gefressen.“
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Man wünscht sich so sehr, vergessen zu können, damit der Schmerz weggeht. Ich habs mir sehr gewünscht. Jede Erinnerung kann ich löschen, verfälschen, hinbiegen, wie ich es will. Bei meiner Mutter habe ich`s oft genug gemacht. Aber auf meine eigenen hab ich keinen Einfluss.“
Alex Hand war nicht mehr auf ihrem Rücken. In sein Gesicht war Unsicherheit getreten und er schien in Gedanken versunken zu sein.
„Was ich für dich getan habe-“
„Warte mal“, sagte Alex und stand plötzlich auf. Er war blass. Die Zigarette in seinen Fingern dampfte gleichgültig. „Hast du in meinem Gehirn rumgewühlt oder was? Was hast du gemacht, Jenna?“
Ihr Herz raste. „Nichts! Ich hab nicht `gemacht`.“
„Was denn jetzt? Ich versteh langsam gar nichts mehr.“
„Alex.“ Es war ein Alptraum. So lief das nicht. Ganz und gar nicht. Täuschte sie sich so sehr in ihm? Wusste er es tatsächlich nicht zu würdigen?
„Was? Was ist los?“ Seine Fäuste ballten sich, bevor ihm die Zigarette wieder einfiel. Fahrig suchte er nach einem Aschenbecher und zerdrückte sie einfach auf der Tischplatte, als er keinen fand.
„Du hattest einen kleinen Bruder,“ begann Jenna. „Er ist gestorben, letztes Jahr.“
Sie konnte sehen, wie er nachdachte und wie seine Gesichtszüge entgleisten, als er feststellte, dass er sich nicht erinnerte. Natürlich nicht.
„Einen Bruder? Aber-“
„Die Erinnerung ist weg. Es fühlt sich an, als wäre dort nie jemand gewesen, stimmt`s? Weiß und leer. So hab ich es mir zumindest immer vorgestellt.“
„Du sagst, ich hatte einen Bruder?“ Wieder dachte er nach. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. „Wie sah er aus?“
„Das ist doch unwichtig. Du kannst ihn vergessen! Du kannst das, was ich nie konnte. Und es ist mein Geschenk an dich, weil ich dich-“
„Nein!“ Jenna war aufgestanden, doch er wich vor ihr zurück. „Sag das bloß nicht. Ich hatte wirklich einen Bruder? Wie alt war er?“
„Lass es doch sein-“
„Wie alt war er?!“
Ihre Eingeweide krampften sich zu einem eisigen Klumpen zusammen. „Acht.“
„Acht“, flüsterte Alex. Tränen standen in seinen glänzenden, grünen Augen. „Und wie ist er gestorben?“
„Das werde ich dir nicht sagen“, presste Jenna hervor und versuchte noch einmal, sich ihm zu nähern. Alex schüttelte den Kopf.
„Komm nicht näher, ich garantiere für nichts.“
„Vergiss ihn doch einfach“, sagte sie beschwörend. „Ich verstehe dich nicht, wieso kannst du dich nicht darüber freuen? Wieso bist du so undankbar?“
Alex verächtliches Lachen ging ihr durch Mark und Bein. „Undankbar. Jenna, du bist abartig.“
Ihre Lippen bebten. „Nenn mich nicht so.“
„Du hast mich meinen Bruder vergessen lassen! Was Verdrehtes bist du? So eine Art Hexe oder was? Denkst du denn, dass da nur schlechte Erinnerungen waren? Dass in den ganzen acht Jahren nie was Schönes passiert ist? Er hatte Geburtstag! Vielleicht hab ich ihm das Laufen oder Schwimmen beigebracht, aber ich kann mich an nichts erinnern, es ist alles weg!“
„Ich wollte nur, dass es dir besser geht“, sagte Jenna tonlos. Sie fühlte sich dünn und steif, als könne ein Lufthauch sie zerbrechen und wegwehen.
Alex betrachtete sie einen Moment, verzog dann das Gesicht und ging seine Jacke holen.
„Du gehst?“
„Ich halt`s hier nicht mehr aus.“
„Warte!“, sagte sie. „Wir gehen zusammen raus und reden darüber, ich kann es dir nochmal erklären und-“
„Es gibt nichts mehr zu bereden. Und ich halte dich nicht mehr aus, falls du es nicht gemerkt hast, Jenna.“ Sein Blick war abweisend und kalt, das Gesicht kalkweiß. „Halt dich von mir fern. Hol dir irgendwo Hilfe oder - keine Ahnung.“
„Du lässt mir einfach stehen?“, keuchte Jenna, und Alex, der schon neben der Tür stand, drehte sich halb um.
„Ja.“
„Das kannst du nicht.“
Darauf bekam sie keine Antwort. Alex sah zu Boden, zögerte noch und wandte sich dann zum Gehen.
„Das kannst du nicht“, wiederholte Jenna. Ihre Fingernägel bohrten sich in die Handflächen und sie ließ beide Fäuste auf die Glasplatte des Wohnzimmertisches knallen.
„Das wirst du nicht mit mir machen! Alex!“
Keine Antwort. Aber er war noch nicht gegangen, das spürte sie. Er stand in der Nische zwischen Wohnzimmer und Haustür, wo sie ihn von hieraus nicht sehen konnte.
„Willst du wissen, was mit deinem Bruder war, du kleiner Pisser? Es war deine Schuld, dass er abgekratzt ist! Du hättest auf ihn aufpassen sollen, aber du hast es nicht hingekriegt, du mieser Versager!“
Jenna lauschte mit hämmerndem Herzen. Die Tür wurde geöffnet und sie sprang auf.
„Alles hätte ich dir aus dem Kopf saugen sollen, dann hättest du nur noch sabbern und flennen können bis zum Ende deines sinnlosen Leben! Ich hasse dich! ICH HASSE DICH!“
Ohne ein Wort schloss Alex von außen die Tür hinter sich. Jennas Schreie hallten durch den Flur, als würde das Gebäude mit ihr fühlen. Fluchtartig stürzte er die Treppen hinunter, immer drei auf einmal nehmend, während ihm die Tränen über die Wangen liefen. Draußen vergaß er den Wagen vor der Tür und rannte.
Irgendwann konnte Jenna nicht mehr schreien und wurde still. Sie legte beide Hände an die Schläfen und konzentrierte sich.
Und als es nicht klappte, versuchte sie es erneut. Die Äderchen in Nase und Augen platzten. Sie waren immer noch da! Direkt hinter den Schläfen, dort saß Alex zusammen mit ihrer Mutter und zusammen lachten sie über diese Abnormale, diese Abartige, diese ... aus ihren Ohren lief etwas Warmes.
„Haut ab!“, wollte sie rufen, doch heraus kam nur ein Nuscheln, das sie selbst nicht verstand.
Haut endlich ab! Ihr Mund gehorchte nicht mehr. Das Gesicht war in dem weißen, flauschigen Teppich vergraben, den Alex im Schlaf noch berührt hatte.
Dieser Name!
Ihre Hand berührte ihre Schläfe ein letztes Mal. Um den Namen zu vertreiben.
Um den Namen