Yin
this is your story
Wiedermal ne KG von mir. ^^ Danke im Voraus schonmal für`s Lesen. Und wenn es Kritik gibt: Nur her damit. ^^
Ich fürchte, meine Tochter hasst mich für das, was ich bin.
Wenn sie mich besuchen kommt, dann fallen mir immer zuerst ihre Augen auf. Sie sieht mich nie direkt an. Vielleicht hat sie Angst, dass meine Dämonen auf sie überspringen könnten. Vielleicht hat sie auch Angst davor, mich zu verstehen, Angst, in die Abgründe ihrer Mutter zu blicken und zu erkennen, dass sie gar nicht so tief sind, wie manch einer denken mag.
Sie ist sechzehn. Ebenso wie ich ist sie keine Schönheit und wird auch nie eine werden. Schon als kleines Kind war sie zu dick und daran gebe ich mir eine nicht unerhebliche Schuld. Es heißt, manche Menschen fressen ihre Probleme in sich hinein. Genau das hat Lena getan.
Einmal die Woche kommt sie mich besuchen. Ich zwinge sie nicht dazu, sie hat es sich so ausgesucht. Manchmal bleibt sie eine ganze Stunde lang, dann wieder nur zehn Minuten. Mal erzählt sie mir freiwillig von sich, blüht ein kleines bisschen auf, nur um mich beim nächsten Besuch wieder unverwandt anzuschweigen.
Aber ich kann es ihr nicht übel nehmen.
Seit sechs Jahren sitze ich wegen Mordes im Gefängnis.
Heute ist sie wieder besonders still. Irgendwie sieht sie aus, als wäre sie die Gefangene, wie sie da auf diesem hässlichen Stuhl kauert und an ihren Fingern herumzupft.
„Was ist los, Lena?“
Träges Schulterzucken.
„War was in der Schule? Hast du Streit mit irgendwem?“
„Nein.“
„Was ist dann?“, starte ich einen weiteren Versuch, fest entschlossen, sie diesmal nicht damit durchkommen zu lassen, auch wenn ich selbst nicht weiß, woher meine Hartnäckigkeit plötzlich kommt.
Tatsächlich hält sie einen Moment inne und hebt den Blick. So viel Bitterkeit. Als wollte etwas in ihr rufen: Sieh dich doch an! Sieh mich an! Und dann frag noch einmal, ob es mir gut geht!
Doch bevor dieses etwas sie dazu bringen kann, es wirklich auszusprechen, starrt sie wieder ein Loch in den Fußboden.
Ich seufze. Ihr Haar sieht aus, als wäre sie das letzte Mal vor Monaten beim Frisör gewesen. Meine Schwester hat selbst drei Kinder und genug um die Ohren, da wird sie nicht auch noch ihrem fast erwachsenen Pflegekind hinterher rennen.
„Ich habe Martin besucht.“
Mein Herz gefriert zu Eis und schmerzt bei jedem Schlag. Das ist es also. Ich beuge mich weiter über den Tisch, als würde uns jemand belauschen.
„Wie geht es ihm?“
„Naja.“ Sie lacht freudlos und es versetzt mir einen Stich. „Hättest du dich mal nach ihm erkundigt-“
„Ich habe mich jeden Tag nach ihm erkundigt, Lena! Aber sie lassen mich nicht zu ihm.“
„Ist wahrscheinlich auch besser so,“ sagt sie kalt. Einen Moment ringe ich mit der Fassung.
„Willst du mir jetzt endlich sagen, wie es ihm geht?“
Sie zögert, warum auch immer. Wahrscheinlich weil sie weiß, dass sie mich in der Hand hat.
„Es geht ihm gut. Er ist schon acht.“
„Ich weiß, wie alt er ist,“ sage ich schärfer als beabsichtigt, doch sie bemerkt es kaum.
Seit seinem ersten Lebensjahr lebt mein Sohn Martin in Krankenhäusern und Kinderkliniken. Vor vier Jahren dann kam er in ein Heim speziell für geistig und körperlich behinderte Kinder.
Seit diesem schrecklichen Abend vor sieben Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen. Oft habe ich mir vorgestellt, wie er jetzt wohl aussieht, doch in Wahrheit würde ich ihn wohl nicht erkennen, wenn er vor mir stünde. Ob er sehr gelitten hat in den letzten Jahren? Manchmal, wenn Nachts die Dunkelheit der Zelle in mein Herz kriecht, dann frage ich den Gott, an den ich längst nicht mehr glaube, wieso Martin nicht auch gestorben ist. Vielleicht wäre es leichter für ihn gewesen, wenn er auch gestorben wäre...
Es begann alles damit, dass mein Mann Harald seine Arbeit verlor. Das glaubte ich zumindest damals, aber ich hatte genug Zeit, darüber nachzudenken und zu dem Schluss zu kommen, dass es schon viel früher begonnen hat. Nur dass ich zu blind oder zu dumm gewesen bin, um es zu merken. Wahrscheinlich war beides der Fall.
Harald war Maler. Keiner, der wundervolle Landschaften auf eine leere Leinwand zauberte oder mit Kreide Kunstwerke auf der Straße erschuf. Nein, dazu wäre er niemals fähig gewesen und selbst wenn, dann wäre er wohl vor Scham gestorben, wenn einer seiner „Kumpel“ davon erfahren hätte.
Das einzige, was ihn zu einem Maler machte, war der Pinsel, mit dem er Farbe an Wände schmierte – und das ohne Streifen zu tun, war die traurige Kunst dabei.
Ich weiß nicht genau, wie es damals passierte, jedenfalls arbeitete Harald auf einem Gerüst, trat daneben und fiel vier Meter tief auf den Asphalt. Er brach sich den rechten Arm doppelt und hatte eine komplizierte Fraktur im rechten Bein, die ihn zu einem humpelnden Krüppel machte, wie er sich selbst gern in den vielen Stunden des Selbstmitleids nannte. Später kamen noch seine Rückenbeschwerden dazu. Ich war gerade schwanger mit Martin und arbeitete halbtags als Verkäuferin in einem Supermarkt. Lena ging in die dritte Klasse und hatte noch nie einen guten Draht zu ihrem Vater gehabt. Sie war nicht sein kleiner Engel. Für seine dickliche Tochter hatte er oft nur einen abschätzigen Blick übrig.
Unser Leben verschlechterte sich nicht besonders durch Haralds Unfall – zumindest nicht finanziell. Von meinem Einkommen und den ganzen Sozialleistungen, die er aufgrund seiner Arbeitsunfähigkeit bekam, konnten wir recht gut leben. Nach einigen Aufenthalten in Reha-Kliniken konnte Harald sogar wieder ohne Krücken laufen und doch bejammerte er sein ungerechtes Schicksal, fragte, wieso es gerade ihn getroffen hatte und suchte die Antwort darauf schließlich auf dem Boden von Bierflaschen.
Scheinbar hatte der Alkohol gute Argumente, denn Harald blieb dabei. Als er noch gearbeitet hatte, sahen wir uns recht selten, oft nur Abends. Ich ging immer früh zu Bett. Das änderte sich, als Martin geboren wurde, denn nun konnte auch ich nicht mehr arbeiten.
„Wieso versuchst du nicht, wieder anzufangen?“, fragte ich ihn eines Abends. Seine Füße lagen auf dem Tisch, daneben hatte er beinahe künstlerisch Flaschen zu einem Kreismuster aneinander gereiht.
„Willste mir schon wieder Vorwürfe machen?“ Ich hasste es, wenn er so sprach. Harald starrte mit offenem Mund auf den Bildschirm und lächelte dümmlich über irgendeine Sendung. Seine Lippen glänzten feucht.
„Ich mein ja nur. Deinem Arm geht`s besser und-“
„Was weißt du über meinen beschissenen Arm!“, grollte er. „Nich mal heben kann ich den richtig! Siehste das nich?“ Demonstrativ reckt er seinen kranken Arm bis knapp über den Kopf und ließ ihn dann mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder fallen.
„Wie soll ich so mit nem Pinsel arbeiten oder nen Farbeimer heben?“
„Bierflaschen kannst du scheinbar heben,“ murmelte ich und hob eine seiner Jeanshosen auf, die er achtlos auf den Boden geschmissen hatte.
Er sah mich aus glasigen Augen an, so durchdringend wie er konnte, bis ihm das zu anstrengend wurde und sein Kopf auf die Sofalehne sackte.
„Du weißt gar nichts.“
Lena kam zur Tür rein und brachte Harald eine neue Flasche. Er sah sie nicht einmal an und riss das Bier an sich wie einen verloren geglaubten Schatz.
Die Monate gingen dahin. Während ihm vor seinem Unfall nur selten die Hand ausgerutscht war, schlug er nun immer häufiger zu. Mit der rechten Hand. Zuerst war nur ich sein Sündenbock, dann auch Lena. Martin schrie nachts wie alle normalen Kinder und wenn Harald wutentbrannt in sein Zimmer stampfte und ihn anbrüllte, fürchtete ich um das Leben meines Sohnes. Ich stieß ihn von Martins Bettchen weg, schrie ihn an, endlich zur Vernunft zu kommen, handelte mir jedoch nur blaue Augen und Platzwunden ein.
Das war der Moment, in dem ich ihn zu hassen begann.
Lena wurde immer stiller und immer dicker. Ich musste sie häufig aus der Schule abholen und meistens nahm ich Martin auch mit – doch einmal tat ich es nicht. Harald war nicht zu Hause und Martin gerade erst eingeschlafen, also fuhr ich allein los.
Ich kam wieder und sah gleich, dass die Balkontür offen stand. Harald zischte dem Jungen etwas zu und streckte ihn dabei über das Geländer. Dann bemerkte er mich und bevor ich mich aus meiner Starre lösen und losstürmen konnte, kam er auch schon wieder herein, drückte mir das schluchzende Kind in die Hand und verließ die Wohnung.
Das war der Moment, in dem ich beschloss, ihn zu verlassen. Doch wie vieles im Leben war das einfacher gesagt als getan. In einem Streit teilte ich ihm meine Entscheidung mit und er wurde augenblicklich stumm. Sein Mund klappte auf und zu wie der eines Fisches und er streckte die Arme nach mir aus. Ekel schüttelte mich und ich wich vor ihm zurück.
„Du kannst mich nich verlassen,“ hauchte er, seine Stimme bebte gefährlich.
„Doch. Ich kann und ich werde.“
Aber er sollte Recht behalten. Am nächsten Morgen stand er früh auf und kam erst am späten Nachmittag zurück. Er hatte das Auto verkauft. Mein Kleiderschrank war durchwühlt, die Sachen zerschnitten oder angebrannt. Den ganzen Tag hatte er nichts getrunken, zumindest stank er nicht nach Alkohol, doch seine Augen glänzten fiebrig.
„Du kannst mich nicht verlassen,“ teilte er mir mit. „Sonst bringe ich zuerst das dicke Mädchen um, dann den kleinen Schreihals – und danach dich, du Miststück.“
Ich war wie erstarrt. Etwas in meinem Inneren zersplitterte und so kam es, dass ich noch zwei Stunden später im Wohnzimmer stand, regungslos, obwohl Harald schon längst wieder verschwunden war. Wie hatte es so weit kommen können? Wie hatte sich dieser Mensch zu solch einem Monster wandeln können, ohne dass ich es gemerkt hatte? Mir war übel und elend zumute. Die Welt hatte mich einige Stationen zu früh herausgeworfen und drehte sich nun fröhlich ohne mich weiter. Die Balkontür lockte, die Straße zehn Stöcke weiter unten sah plötzlich strahlend und einladend aus.
Und als ich auf dem Geländer kauerte, zitternd und schluchzend, da traf mich plötzlich die Erkenntnis.
Das war der Moment, in dem ich beschloss, ihn zu töten.
Ich schickte Lena zu ihrem Bruder ins Zimmer und befahl ihr, es nicht zu verlassen, was immer auch passierte. Dann suchte ich mir das größte Messer heraus, das ich finden konnte und wartete.
Während alldem war ich merkwürdig ruhig. Auch, als Harald die Küche betrat, zum Kühlschrank ging und ich ihn von hinten wie eine Furie ansprang, war mir, als würde ich jemand anders dabei beobachten. Ich stach ihm in die Seite und er schrie auf. Wie wild warf er sich hin und her und es gelang ihm, mich abzuschütteln. Wieder stürmte ich auf ihn zu, rammte ihm das Messer ein paar Zentimeter in den Bauch, bevor er es mir entriss, mir mit der Faust ins Gesicht schlug und ich benommen zu Boden ging.
Einige Sekunden lang muss ich bewusstlos gewesen sein, denn als ich wieder zu mir kam, stand Harald blutüberströmt in der Küche, Martin auf dem Arm. Lena kreischte und klammerte sich an den Küchenschrank. Harald stand mit dem Rücken zu ihr.
„Das haste jetzt davon!“, brüllte er schwankend. Das Messer hielt er ungelenk in der linken Hand.
„Nein!“, hörte ich mich noch rufen, dann ging alles blitzschnell.
Einige Sekunden zuvor hatte ich ein merkwürdiges Ruckeln gehört, wie das Ticken einer überdimensionalen Uhr. Dann sah ich Lena, die wie im Wahn an dem riesigen Küchenschrank zerrte, bis er Übergewicht bekam und mit einem dumpfen Knall Harald und Martin unter sich begrub.
Ich erinnere mich noch genau an ihren Blick. Wie sie fassungslos auf den Schrank starrte, auf das Blut, das darunter hervorzusickern begann und sich mit den Scherben vermischte.
Harald starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Hätte er überlebt, dann wäre ich wohl wahnsinnig geworden. Der kleine Martin trug schwere Kopfverletzungen davon, Brüche, Prellungen. Kaum jemand rechnete damit, dass er sich wieder erholte. Aber das tat er. Mehr oder weniger.
Und ich nahm die Schuld auf mich. War es letztendlich nicht völlig egal? Ich hatte geplant, ihn umzubringen und nun war er tot. Immer, wenn sich die Möglichkeit ergab, redete ich auf meine traumatisierte Tochter ein, versicherte ihr, ich habe den Schrank umgestoßen. Erzählte es jedem und so oft, bis ich mir irgendwann selbst nicht mehr sicher war, ob es stimmte oder nicht.
Wenn Lena mich besuchen kommt, dann fallen mir immer zuerst ihre Augen auf. Sie sieht mich nie direkt an.
„Ich muss los,“ sagt sie unvermittelt. Ich reagiere nicht schnell genug und sie ist schon zur Tür hinaus, bevor ich etwas erwidern kann.
Ob sie weiß, was wirklich geschehen ist an diesem Abend?
Ich fürchte, meine Tochter hasst mich für das, was ich bin.
Aber besser sie hasst mich, als sich selbst.
So ist es besser.
Ich fürchte, meine Tochter hasst mich für das, was ich bin.
Wenn sie mich besuchen kommt, dann fallen mir immer zuerst ihre Augen auf. Sie sieht mich nie direkt an. Vielleicht hat sie Angst, dass meine Dämonen auf sie überspringen könnten. Vielleicht hat sie auch Angst davor, mich zu verstehen, Angst, in die Abgründe ihrer Mutter zu blicken und zu erkennen, dass sie gar nicht so tief sind, wie manch einer denken mag.
Sie ist sechzehn. Ebenso wie ich ist sie keine Schönheit und wird auch nie eine werden. Schon als kleines Kind war sie zu dick und daran gebe ich mir eine nicht unerhebliche Schuld. Es heißt, manche Menschen fressen ihre Probleme in sich hinein. Genau das hat Lena getan.
Einmal die Woche kommt sie mich besuchen. Ich zwinge sie nicht dazu, sie hat es sich so ausgesucht. Manchmal bleibt sie eine ganze Stunde lang, dann wieder nur zehn Minuten. Mal erzählt sie mir freiwillig von sich, blüht ein kleines bisschen auf, nur um mich beim nächsten Besuch wieder unverwandt anzuschweigen.
Aber ich kann es ihr nicht übel nehmen.
Seit sechs Jahren sitze ich wegen Mordes im Gefängnis.
Heute ist sie wieder besonders still. Irgendwie sieht sie aus, als wäre sie die Gefangene, wie sie da auf diesem hässlichen Stuhl kauert und an ihren Fingern herumzupft.
„Was ist los, Lena?“
Träges Schulterzucken.
„War was in der Schule? Hast du Streit mit irgendwem?“
„Nein.“
„Was ist dann?“, starte ich einen weiteren Versuch, fest entschlossen, sie diesmal nicht damit durchkommen zu lassen, auch wenn ich selbst nicht weiß, woher meine Hartnäckigkeit plötzlich kommt.
Tatsächlich hält sie einen Moment inne und hebt den Blick. So viel Bitterkeit. Als wollte etwas in ihr rufen: Sieh dich doch an! Sieh mich an! Und dann frag noch einmal, ob es mir gut geht!
Doch bevor dieses etwas sie dazu bringen kann, es wirklich auszusprechen, starrt sie wieder ein Loch in den Fußboden.
Ich seufze. Ihr Haar sieht aus, als wäre sie das letzte Mal vor Monaten beim Frisör gewesen. Meine Schwester hat selbst drei Kinder und genug um die Ohren, da wird sie nicht auch noch ihrem fast erwachsenen Pflegekind hinterher rennen.
„Ich habe Martin besucht.“
Mein Herz gefriert zu Eis und schmerzt bei jedem Schlag. Das ist es also. Ich beuge mich weiter über den Tisch, als würde uns jemand belauschen.
„Wie geht es ihm?“
„Naja.“ Sie lacht freudlos und es versetzt mir einen Stich. „Hättest du dich mal nach ihm erkundigt-“
„Ich habe mich jeden Tag nach ihm erkundigt, Lena! Aber sie lassen mich nicht zu ihm.“
„Ist wahrscheinlich auch besser so,“ sagt sie kalt. Einen Moment ringe ich mit der Fassung.
„Willst du mir jetzt endlich sagen, wie es ihm geht?“
Sie zögert, warum auch immer. Wahrscheinlich weil sie weiß, dass sie mich in der Hand hat.
„Es geht ihm gut. Er ist schon acht.“
„Ich weiß, wie alt er ist,“ sage ich schärfer als beabsichtigt, doch sie bemerkt es kaum.
Seit seinem ersten Lebensjahr lebt mein Sohn Martin in Krankenhäusern und Kinderkliniken. Vor vier Jahren dann kam er in ein Heim speziell für geistig und körperlich behinderte Kinder.
Seit diesem schrecklichen Abend vor sieben Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen. Oft habe ich mir vorgestellt, wie er jetzt wohl aussieht, doch in Wahrheit würde ich ihn wohl nicht erkennen, wenn er vor mir stünde. Ob er sehr gelitten hat in den letzten Jahren? Manchmal, wenn Nachts die Dunkelheit der Zelle in mein Herz kriecht, dann frage ich den Gott, an den ich längst nicht mehr glaube, wieso Martin nicht auch gestorben ist. Vielleicht wäre es leichter für ihn gewesen, wenn er auch gestorben wäre...
Es begann alles damit, dass mein Mann Harald seine Arbeit verlor. Das glaubte ich zumindest damals, aber ich hatte genug Zeit, darüber nachzudenken und zu dem Schluss zu kommen, dass es schon viel früher begonnen hat. Nur dass ich zu blind oder zu dumm gewesen bin, um es zu merken. Wahrscheinlich war beides der Fall.
Harald war Maler. Keiner, der wundervolle Landschaften auf eine leere Leinwand zauberte oder mit Kreide Kunstwerke auf der Straße erschuf. Nein, dazu wäre er niemals fähig gewesen und selbst wenn, dann wäre er wohl vor Scham gestorben, wenn einer seiner „Kumpel“ davon erfahren hätte.
Das einzige, was ihn zu einem Maler machte, war der Pinsel, mit dem er Farbe an Wände schmierte – und das ohne Streifen zu tun, war die traurige Kunst dabei.
Ich weiß nicht genau, wie es damals passierte, jedenfalls arbeitete Harald auf einem Gerüst, trat daneben und fiel vier Meter tief auf den Asphalt. Er brach sich den rechten Arm doppelt und hatte eine komplizierte Fraktur im rechten Bein, die ihn zu einem humpelnden Krüppel machte, wie er sich selbst gern in den vielen Stunden des Selbstmitleids nannte. Später kamen noch seine Rückenbeschwerden dazu. Ich war gerade schwanger mit Martin und arbeitete halbtags als Verkäuferin in einem Supermarkt. Lena ging in die dritte Klasse und hatte noch nie einen guten Draht zu ihrem Vater gehabt. Sie war nicht sein kleiner Engel. Für seine dickliche Tochter hatte er oft nur einen abschätzigen Blick übrig.
Unser Leben verschlechterte sich nicht besonders durch Haralds Unfall – zumindest nicht finanziell. Von meinem Einkommen und den ganzen Sozialleistungen, die er aufgrund seiner Arbeitsunfähigkeit bekam, konnten wir recht gut leben. Nach einigen Aufenthalten in Reha-Kliniken konnte Harald sogar wieder ohne Krücken laufen und doch bejammerte er sein ungerechtes Schicksal, fragte, wieso es gerade ihn getroffen hatte und suchte die Antwort darauf schließlich auf dem Boden von Bierflaschen.
Scheinbar hatte der Alkohol gute Argumente, denn Harald blieb dabei. Als er noch gearbeitet hatte, sahen wir uns recht selten, oft nur Abends. Ich ging immer früh zu Bett. Das änderte sich, als Martin geboren wurde, denn nun konnte auch ich nicht mehr arbeiten.
„Wieso versuchst du nicht, wieder anzufangen?“, fragte ich ihn eines Abends. Seine Füße lagen auf dem Tisch, daneben hatte er beinahe künstlerisch Flaschen zu einem Kreismuster aneinander gereiht.
„Willste mir schon wieder Vorwürfe machen?“ Ich hasste es, wenn er so sprach. Harald starrte mit offenem Mund auf den Bildschirm und lächelte dümmlich über irgendeine Sendung. Seine Lippen glänzten feucht.
„Ich mein ja nur. Deinem Arm geht`s besser und-“
„Was weißt du über meinen beschissenen Arm!“, grollte er. „Nich mal heben kann ich den richtig! Siehste das nich?“ Demonstrativ reckt er seinen kranken Arm bis knapp über den Kopf und ließ ihn dann mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder fallen.
„Wie soll ich so mit nem Pinsel arbeiten oder nen Farbeimer heben?“
„Bierflaschen kannst du scheinbar heben,“ murmelte ich und hob eine seiner Jeanshosen auf, die er achtlos auf den Boden geschmissen hatte.
Er sah mich aus glasigen Augen an, so durchdringend wie er konnte, bis ihm das zu anstrengend wurde und sein Kopf auf die Sofalehne sackte.
„Du weißt gar nichts.“
Lena kam zur Tür rein und brachte Harald eine neue Flasche. Er sah sie nicht einmal an und riss das Bier an sich wie einen verloren geglaubten Schatz.
Die Monate gingen dahin. Während ihm vor seinem Unfall nur selten die Hand ausgerutscht war, schlug er nun immer häufiger zu. Mit der rechten Hand. Zuerst war nur ich sein Sündenbock, dann auch Lena. Martin schrie nachts wie alle normalen Kinder und wenn Harald wutentbrannt in sein Zimmer stampfte und ihn anbrüllte, fürchtete ich um das Leben meines Sohnes. Ich stieß ihn von Martins Bettchen weg, schrie ihn an, endlich zur Vernunft zu kommen, handelte mir jedoch nur blaue Augen und Platzwunden ein.
Das war der Moment, in dem ich ihn zu hassen begann.
Lena wurde immer stiller und immer dicker. Ich musste sie häufig aus der Schule abholen und meistens nahm ich Martin auch mit – doch einmal tat ich es nicht. Harald war nicht zu Hause und Martin gerade erst eingeschlafen, also fuhr ich allein los.
Ich kam wieder und sah gleich, dass die Balkontür offen stand. Harald zischte dem Jungen etwas zu und streckte ihn dabei über das Geländer. Dann bemerkte er mich und bevor ich mich aus meiner Starre lösen und losstürmen konnte, kam er auch schon wieder herein, drückte mir das schluchzende Kind in die Hand und verließ die Wohnung.
Das war der Moment, in dem ich beschloss, ihn zu verlassen. Doch wie vieles im Leben war das einfacher gesagt als getan. In einem Streit teilte ich ihm meine Entscheidung mit und er wurde augenblicklich stumm. Sein Mund klappte auf und zu wie der eines Fisches und er streckte die Arme nach mir aus. Ekel schüttelte mich und ich wich vor ihm zurück.
„Du kannst mich nich verlassen,“ hauchte er, seine Stimme bebte gefährlich.
„Doch. Ich kann und ich werde.“
Aber er sollte Recht behalten. Am nächsten Morgen stand er früh auf und kam erst am späten Nachmittag zurück. Er hatte das Auto verkauft. Mein Kleiderschrank war durchwühlt, die Sachen zerschnitten oder angebrannt. Den ganzen Tag hatte er nichts getrunken, zumindest stank er nicht nach Alkohol, doch seine Augen glänzten fiebrig.
„Du kannst mich nicht verlassen,“ teilte er mir mit. „Sonst bringe ich zuerst das dicke Mädchen um, dann den kleinen Schreihals – und danach dich, du Miststück.“
Ich war wie erstarrt. Etwas in meinem Inneren zersplitterte und so kam es, dass ich noch zwei Stunden später im Wohnzimmer stand, regungslos, obwohl Harald schon längst wieder verschwunden war. Wie hatte es so weit kommen können? Wie hatte sich dieser Mensch zu solch einem Monster wandeln können, ohne dass ich es gemerkt hatte? Mir war übel und elend zumute. Die Welt hatte mich einige Stationen zu früh herausgeworfen und drehte sich nun fröhlich ohne mich weiter. Die Balkontür lockte, die Straße zehn Stöcke weiter unten sah plötzlich strahlend und einladend aus.
Und als ich auf dem Geländer kauerte, zitternd und schluchzend, da traf mich plötzlich die Erkenntnis.
Das war der Moment, in dem ich beschloss, ihn zu töten.
Ich schickte Lena zu ihrem Bruder ins Zimmer und befahl ihr, es nicht zu verlassen, was immer auch passierte. Dann suchte ich mir das größte Messer heraus, das ich finden konnte und wartete.
Während alldem war ich merkwürdig ruhig. Auch, als Harald die Küche betrat, zum Kühlschrank ging und ich ihn von hinten wie eine Furie ansprang, war mir, als würde ich jemand anders dabei beobachten. Ich stach ihm in die Seite und er schrie auf. Wie wild warf er sich hin und her und es gelang ihm, mich abzuschütteln. Wieder stürmte ich auf ihn zu, rammte ihm das Messer ein paar Zentimeter in den Bauch, bevor er es mir entriss, mir mit der Faust ins Gesicht schlug und ich benommen zu Boden ging.
Einige Sekunden lang muss ich bewusstlos gewesen sein, denn als ich wieder zu mir kam, stand Harald blutüberströmt in der Küche, Martin auf dem Arm. Lena kreischte und klammerte sich an den Küchenschrank. Harald stand mit dem Rücken zu ihr.
„Das haste jetzt davon!“, brüllte er schwankend. Das Messer hielt er ungelenk in der linken Hand.
„Nein!“, hörte ich mich noch rufen, dann ging alles blitzschnell.
Einige Sekunden zuvor hatte ich ein merkwürdiges Ruckeln gehört, wie das Ticken einer überdimensionalen Uhr. Dann sah ich Lena, die wie im Wahn an dem riesigen Küchenschrank zerrte, bis er Übergewicht bekam und mit einem dumpfen Knall Harald und Martin unter sich begrub.
Ich erinnere mich noch genau an ihren Blick. Wie sie fassungslos auf den Schrank starrte, auf das Blut, das darunter hervorzusickern begann und sich mit den Scherben vermischte.
Harald starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Hätte er überlebt, dann wäre ich wohl wahnsinnig geworden. Der kleine Martin trug schwere Kopfverletzungen davon, Brüche, Prellungen. Kaum jemand rechnete damit, dass er sich wieder erholte. Aber das tat er. Mehr oder weniger.
Und ich nahm die Schuld auf mich. War es letztendlich nicht völlig egal? Ich hatte geplant, ihn umzubringen und nun war er tot. Immer, wenn sich die Möglichkeit ergab, redete ich auf meine traumatisierte Tochter ein, versicherte ihr, ich habe den Schrank umgestoßen. Erzählte es jedem und so oft, bis ich mir irgendwann selbst nicht mehr sicher war, ob es stimmte oder nicht.
Wenn Lena mich besuchen kommt, dann fallen mir immer zuerst ihre Augen auf. Sie sieht mich nie direkt an.
„Ich muss los,“ sagt sie unvermittelt. Ich reagiere nicht schnell genug und sie ist schon zur Tür hinaus, bevor ich etwas erwidern kann.
Ob sie weiß, was wirklich geschehen ist an diesem Abend?
Ich fürchte, meine Tochter hasst mich für das, was ich bin.
Aber besser sie hasst mich, als sich selbst.
So ist es besser.