Yin
this is your story
Dieser Gang erweckte in ihm beinahe klaustrophobische Gefühle.
Du musst das nicht machen, Luke, beschwor ihn eine innere Stimme verlockend. Tu einfach das, was du immer getan hast. Drück dich davor.
Als hätte die Stimme etwas ausgesprochen, was sie gar nicht hatte sagen wollen, verstummte sie plötzlich. Wie ferngesteuert liefen seine Füße dem Detective und noch einem anderen Mann im weißen Kittel hinterher.
Luke vergrub die Hände in den Taschen. Ihn fröstelte.
„Alles klar?“, wollte der Polizist mit der Adlernase von ihm wissen. Er war stehen geblieben und deutete mit dem Kopf auf eine Tür links von ihnen. Luke zuckte mit den Schultern.
„Es geht schon.“
„Wenn Sie noch einen Augenblick brauchen...“
„Nein.“ Er zwang sich zu einem Lächeln, das wahrscheinlich ziemlich missglückte. „Nein, schon gut.“
Ein Woche zuvor
Er stopfte sich die beiden Einkaufstüten unter die Arme und schlug mit dem Fuß die Autotür zu. Dann eilte er durch den Regen über die Straße. Ein Wagen rauschte laut hupend an ihm vorbei und bespritzte seine Jeans mit dreckigem Wasser.
„Blöder Idiot!“, schrie Luke dem Fahrer hinterher und rettete sich schließlich ins Treppenhaus zu seiner Mietswohnung. Während er dort einen Moment verschnaufte und eine große Pfütze hinterließ, klingelte sein Handy in der Jackentasche. Kurz spielte er mit dem Gedanken, es einfach bimmeln zu lassen, stellte dann die durchweichten Papiertüten ab und kramte mit klammen Händen das Telefon heraus.
Einen Sekundenbruchteil, bevor er auf dem Display den Namen las, durchfuhr es ihn wie ein Stromschlag und er stieß einen zischenden Laut aus.
„Hi Linda.“
In der Leitung blieb es still. Als er schon glaubte, dass er versehentlich aufgelegt statt den Anruf entgegengenommen hatte, drang ihre leise Stimme an sein Ohr.
„Hallo Luke.“
„Linda, ich... es tut mir Leid, ich hab das völlig vergessen.“
Ihren Gesichtsausdruck konnte er regelrecht sehen. Die zusammengepressten Lippen, als wolle sie einen Schrei oder ein lautes, verrücktes Lachen zurückhalten. Die Augen, aus denen eine Enttäuschung sprach, mit der ihn auch seine Mutter immer angesehen hatte.
„Ach Lukas,“ hätte sie jetzt gesagt. „Wie bist du nur so geworden? Ein Mensch, der nur an sich selbst denkt...“
Das, was Linda sagte, bedeutete irgendwie dasselbe.
„Das ist ja nichts Neues.“
Das Ehepaar aus dem achten Stock brüllte sich an. Etwas knallte und Luke fragte sich, ob einer der beiden endlich geschossen hatte. Mit einer Hand fuhr er sich durch die nassen Haare und versuchte abwesend, etwas Ordnung hineinzubringen.
„Ich hatte so viel zu tun, die Arbeit und alles. Gerade war ich noch einkaufen und... Linda, wo bist du eigentlich?“ Im Hintergrund konnte er leise Stimmen hören.
„Im Restaurant,“ kam die gepresste Antwort. Lukes Hand hielt inne und verkrallte sich dann in seinen Haaren.
„Ich warte seit drei Stunden auf dich. Die Kellner schauen mich mittlerweile merkwürdig an, deshalb habe ich schon mal den Wein bestellt. Er ist leer, ich habe ihn allein getrunken.“
Sie klang nun fast weinerlich. Luke hörte Schritte auf der Treppe. Die alte Mrs. Tacker und ihr Hund kamen beide in voller Regenmontur heruntergewatschelt und betrachteten ihn und seine Pfütze missbilligend. Er beeilte sich, die Tüten aufzuheben und klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Ohr.
„Hör zu... es tut mir Leid,“ begann er. Währenddessen machte er sich an den Aufstieg.
„Ja. Klar.“
„Nein, wirklich. Warte noch einen bisschen, ich... ich ziehe mich schnell um und komme dann zu dir.“
Eine lange Pause. Seine Schritte hallten von den kalten Wänden des Treppenhauses wider wie die Hammerschläge eines Richters.
Dann hörte er, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde. Sie schluckte vernehmlich.
„Mach dir meinetwegen keine Umstände.“
„Linda, warte mal...“
„Nein, lass nur.“ Jetzt hatte sie diesen Ton in der Stimme, den er absolut nicht leiden konnte. Eine schrille, übertriebene Heiterkeit, mit der sie ihren Gemütszustand zu überspielen versuchte und er umklammerte die Tüten so stark, dass irgendetwas darin bedenklich knackte.
„Ich will dir nicht noch mehr zur Last fallen. Du hast ohnehin schon genug zu tun.“
„Linda...“
„Lass gut sein, Lukas.“ Ihre Stimme zitterte. An seiner Nase juckte es plötzlich fürchterlich und beinahe hätte er alles fallen lassen bei dem Versuch, sich mit der Schulter zu kratzen.
„Ich ruf dich heute Abend an, okay? Es tut mir wirklich Leid.“
„Tu dir keinen Zwang an,“ hörte er sie noch sagen, aber es klang leise. Scheinbar hatte sie das Handy bereits vom Ohr genommen und im nächsten Moment legte sie auch schon auf.
„Schöne Scheiße,“ knurrte er, sah nach oben und blieb dann wie angewurzelt stehen. Das Handy fiel ihm von der Schulter und blieb auf der Stufe vor ihm liegen.
Cindy, die bis eben noch an seine Tür gelehnt dagesessen hatte, stand nun verschämt auf, als wäre sie bei etwas Verbotenem erwischt worden. Neben ihr lag ein hässlicher, olivgrüner Rucksack.
Mit wachsender Ablehnung musterte Luke ihre Kleidung. Sie trug zerschlissene, schmutzige Jeans und einen viel zu großen Parka. Die blonden Haare waren verfilzt und zu einem strähnigen Zopf zusammengebunden.
Vorsichtig kam sie näher, hob sein Handy auf und drehte es prüfend in den knochigen Händen, scheinbar froh, ihn nicht ansehen zu müssen.
Er drängte sich an ihr vorbei die letzten Stufen hinauf. Dann stellte er die Einkaufstüten wie eine Mauer vor seiner Tür auf.
„Hi Luki.“ Cindy hielt sein Handy nun mit einer Hand und strich sich mit der anderen immer wieder eine Haarsträhne hinter das linke Ohr.
„Hi.“ Der Klang seiner Stimme ließ sie zusammenzucken.
Mit glänzenden Augen begann sie auf ihren Fingernägeln herumzukauen. Das klickende Geräusch ging ihm durch Mark und Bein.
„Wenn du mich wieder um Geld bitten willst -“
„Nein!“ Beinahe entsetzt schrak sie auf und sah aus wie ein Reh im Fernlicht eines Autos. „Nein. Dass ich einfach meinen kleinen Bruder besuchen wollte, kaufst du mir sicher nicht ab, oder?“ Sie lächelte unsicher.
Die Tür zu seiner Rechten öffnete sich einen Spalt und Sarah Parker, eine Frau mittleren Alters, spähte unverhohlen neugierig heraus. Luke haderte noch mit sich, schloss dann aber die Tür auf und winkte seine Schwester hinein.
„Danke.“
Cindy nahm die Hühnerbrühe entgegen, die Luke ihr reichte und nippte vorsichtig daran. Im grellen Küchenlicht sah sie noch schlimmer aus als draußen im Flur. Luke hatte die Hände in die Hüften gestemmt und wusste nicht so recht, was er mit sich anfangen sollte.
„Und?“, warf er in den Raum und hasste sich gleichzeitig wieder für den Ton in seiner Stimme. Seine Schwester blickte nicht von ihrer Tasse auf.
„Linda – ist das deine Freundin?“
„Ja. Oder sie war es, keine Ahnung. Das erfahre ich wohl heute Abend.“
Sekundenlang schwiegen sie sich an. Cindy rührte unbehaglich in ihrer Brühe.
„Ich... bräuchte eine Weile einen Platz zum Schlafen,“ meinte sie dann fast beiläufig. „Nur vorübergehend, weißt du...“
„Du meinst wohl einen Platz zum Verstecken. Mit was für Typen hast du dich diesmal eingelassen?“
Ihre Knöchel traten hervor, als sie die Tasse fester umklammerte.
„Da hältst du dich besser raus.“
Wenigstens leugnete sie es nicht. Luke wusste allerdings nicht recht, ob er sich darüber freuen sollte. Spätestens, wenn irgendwelche Schläger seine Wohnung auf den Kopf stellten und ihn totprügelten, würde er es wissen.
„Wie bist du in diese ganze Scheiße nur reingeraten?“, fragte er und endlich sah sie auf. Trotz blitzte in ihren Augen auf, dann wurde ihr Blick wieder stumpf wie der eines gefangenen Tieres.
„Keine Predigten, bitte,“ sagte sie leise.
„Bist du dagegen nicht mittlerweile immun?“, fragte er bissig. In der Hosentasche kramte er nach seinen Zigaretten und schwor sich zum zwölften Mal in dieser Woche, es sich abzugewöhnen. Morgen.
„Ist das da alles, was du besitzt?“ Die Zigarette in seinem Mundwinkel tanzte. Er steckte sie sich an und nahm einen tiefen Zug.
Als hätte er es auf ihren Rucksack abgesehen, zog sie ihn mit dem Fuß näher zu sich heran.
„Cindy... sieh dich doch an. Wieso machst du dich so kaputt?“
Sie war in ihrem Stuhl zusammengesunken, hatte beide Hände zu Fäusten geballt und vor sich auf den Tisch gelegt. Trotzdem konnte Luke das nervöse Zittern ihrer Finger sehen.
„Ich kümmer mich schon um mich selbst.“
„Das seh ich.“ Er ging auf sie zu und sie wich vor ihm zurück. Dann nahm er ihren linken Arm, zog trotz ihres eher verhaltenen Widerstandes den Ärmel des Parkas zurück.
„So nennst du das also.“ Die Zigarette schmeckte plötzlich ekelhaft und er zerdrückte sie achtlos auf dem Küchentisch. Überall in der Armbeuge sah er Einstichlöcher, deren Ränder blau geworden waren. Narben zogen sich über ihre Unterarme, einige schlimmer als andere. Entsetzt fragte Luke sich, wie oft seine Schwester wohl versucht hatte, sich so oder auf andere Art das Leben zu nehmen.
Als wäre sie selbst einen Moment vom Anblick ihres Armes grausam fasziniert gewesen, riss sie sich los und flüchtete in die andere Ecke des Raumes. In ihrer Miene spiegelten sich Gefühle, die Luke nicht deuten konnte.
„Komm doch einmal von deinem beschissen hohen Ross runter, Luke!“, schrie sie ihn an und umklammerte ihre Schultern. „Glaubst du, es macht mir Spaß, so zu leben? Ich scheiß auf dich, Lukas! Wie konnte ich nur so dumm sein und dich um Hilfe bitten?“
„Das kann ich dir sagen, Junkie! Die Sucht hat dich hergetrieben!“ Wütend riss er seinen Geldbeutel aus der hinteren Hosentasche und warf etwa fünfzig Dollar auf den Tisch.
„Deswegen bist du doch hier, Cindy. Da. Nimm das Geld, aber teil`s dir gut ein.“
Du bist ein Egoist, Lukas. Immer denkst du nur an dich.
Sie sah ihn an, wie man einen Freund ansehen würde, der gerade versucht hatte, einen vor den nächstbesten LKW zu stoßen. Ihre Augen zuckten zu den Geldscheinen und er wusste, dass sie sie nehmen würde.
Langsam kam sie wieder näher. Mit spitzen Fingern sammelte sie das Geld ein, zog ihren Rucksack unter dem Tisch hervor und wich dabei gekonnt seinem Blick aus. Luke war viel zu aufgebracht, um auch nur daran zu denken, sich bei ihr zu entschuldigen. Stattdessen trat er zurück, damit sie sich an ihm vorbei zur Tür schieben konnte.
Dort drehte sie sich noch einmal kurz um. Ihr Anblick versetzte Luke einen Stich.
„Mach`s gut, Luki.“
„Du auch. Und... pass auf dich auf.“
Bei seinen letzten Worten war sie bereits halb zur Tür hinaus gewesen. Seufzend ließ er sich auf einen Stuhl sinken. Ihre Brühe dampfte noch.
Gegenwart
„Ist sie das, Mr. Gray?“
„Lassen Sie dem Mann noch einen Augenblick Zeit,“ hörte er die Stimme des Gerichtsmediziners und spürte dann, wie er den Kopf schüttelte. Seine Augen blieben trotzdem wie festgetackert auf dem eingefallenen Gesicht seiner Schwester kleben, die auf dem kalten Stahl vor ihm lag.
„Ja, das ist sie. Das ist Cindy.“
„Sie wurde im Stadtpark gefunden,“ erklärte der Detective wahrscheinlich automatisch. Luke starrte noch immer auf ihr weißes Gesicht. Auf die kleine Narbe an ihrer Stirn, die sie sich vor vielen Jahren zugezogen hatte, als sie von einem Baum gefallen war. Damals hatte er sich fürchterlich erschrocken, weil sie eine ganze Weile still liegen geblieben war. Doch sie war wieder aufgestanden. Heute würde sie liegen bleiben.
„Und... was-?“ Seine Stimme versagte und er kämpfte einen Laut nieder, der in seiner Kehle saß.
„Überdosis,“ antwortete der Weißkittel. Luke nickte und riss sich endlich von ihrem Anblick los.
„Können wir – ich möchte das schnell hinter mich bringen. Ich muss bestimmt noch irgendwo unterschreiben...“
„Oh.“ Der Detective wirkte wie aufgeschreckt. „Natürlich. Kommen Sie.“
Luke wandte sich ab. Während er auf den Ausgang zusteuerte, wurde er immer schneller. Am Schluss rannte er fast.
Aber er sah sich nicht noch einmal um.
Du musst das nicht machen, Luke, beschwor ihn eine innere Stimme verlockend. Tu einfach das, was du immer getan hast. Drück dich davor.
Als hätte die Stimme etwas ausgesprochen, was sie gar nicht hatte sagen wollen, verstummte sie plötzlich. Wie ferngesteuert liefen seine Füße dem Detective und noch einem anderen Mann im weißen Kittel hinterher.
Luke vergrub die Hände in den Taschen. Ihn fröstelte.
„Alles klar?“, wollte der Polizist mit der Adlernase von ihm wissen. Er war stehen geblieben und deutete mit dem Kopf auf eine Tür links von ihnen. Luke zuckte mit den Schultern.
„Es geht schon.“
„Wenn Sie noch einen Augenblick brauchen...“
„Nein.“ Er zwang sich zu einem Lächeln, das wahrscheinlich ziemlich missglückte. „Nein, schon gut.“
Ein Woche zuvor
Er stopfte sich die beiden Einkaufstüten unter die Arme und schlug mit dem Fuß die Autotür zu. Dann eilte er durch den Regen über die Straße. Ein Wagen rauschte laut hupend an ihm vorbei und bespritzte seine Jeans mit dreckigem Wasser.
„Blöder Idiot!“, schrie Luke dem Fahrer hinterher und rettete sich schließlich ins Treppenhaus zu seiner Mietswohnung. Während er dort einen Moment verschnaufte und eine große Pfütze hinterließ, klingelte sein Handy in der Jackentasche. Kurz spielte er mit dem Gedanken, es einfach bimmeln zu lassen, stellte dann die durchweichten Papiertüten ab und kramte mit klammen Händen das Telefon heraus.
Einen Sekundenbruchteil, bevor er auf dem Display den Namen las, durchfuhr es ihn wie ein Stromschlag und er stieß einen zischenden Laut aus.
„Hi Linda.“
In der Leitung blieb es still. Als er schon glaubte, dass er versehentlich aufgelegt statt den Anruf entgegengenommen hatte, drang ihre leise Stimme an sein Ohr.
„Hallo Luke.“
„Linda, ich... es tut mir Leid, ich hab das völlig vergessen.“
Ihren Gesichtsausdruck konnte er regelrecht sehen. Die zusammengepressten Lippen, als wolle sie einen Schrei oder ein lautes, verrücktes Lachen zurückhalten. Die Augen, aus denen eine Enttäuschung sprach, mit der ihn auch seine Mutter immer angesehen hatte.
„Ach Lukas,“ hätte sie jetzt gesagt. „Wie bist du nur so geworden? Ein Mensch, der nur an sich selbst denkt...“
Das, was Linda sagte, bedeutete irgendwie dasselbe.
„Das ist ja nichts Neues.“
Das Ehepaar aus dem achten Stock brüllte sich an. Etwas knallte und Luke fragte sich, ob einer der beiden endlich geschossen hatte. Mit einer Hand fuhr er sich durch die nassen Haare und versuchte abwesend, etwas Ordnung hineinzubringen.
„Ich hatte so viel zu tun, die Arbeit und alles. Gerade war ich noch einkaufen und... Linda, wo bist du eigentlich?“ Im Hintergrund konnte er leise Stimmen hören.
„Im Restaurant,“ kam die gepresste Antwort. Lukes Hand hielt inne und verkrallte sich dann in seinen Haaren.
„Ich warte seit drei Stunden auf dich. Die Kellner schauen mich mittlerweile merkwürdig an, deshalb habe ich schon mal den Wein bestellt. Er ist leer, ich habe ihn allein getrunken.“
Sie klang nun fast weinerlich. Luke hörte Schritte auf der Treppe. Die alte Mrs. Tacker und ihr Hund kamen beide in voller Regenmontur heruntergewatschelt und betrachteten ihn und seine Pfütze missbilligend. Er beeilte sich, die Tüten aufzuheben und klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Ohr.
„Hör zu... es tut mir Leid,“ begann er. Währenddessen machte er sich an den Aufstieg.
„Ja. Klar.“
„Nein, wirklich. Warte noch einen bisschen, ich... ich ziehe mich schnell um und komme dann zu dir.“
Eine lange Pause. Seine Schritte hallten von den kalten Wänden des Treppenhauses wider wie die Hammerschläge eines Richters.
Dann hörte er, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde. Sie schluckte vernehmlich.
„Mach dir meinetwegen keine Umstände.“
„Linda, warte mal...“
„Nein, lass nur.“ Jetzt hatte sie diesen Ton in der Stimme, den er absolut nicht leiden konnte. Eine schrille, übertriebene Heiterkeit, mit der sie ihren Gemütszustand zu überspielen versuchte und er umklammerte die Tüten so stark, dass irgendetwas darin bedenklich knackte.
„Ich will dir nicht noch mehr zur Last fallen. Du hast ohnehin schon genug zu tun.“
„Linda...“
„Lass gut sein, Lukas.“ Ihre Stimme zitterte. An seiner Nase juckte es plötzlich fürchterlich und beinahe hätte er alles fallen lassen bei dem Versuch, sich mit der Schulter zu kratzen.
„Ich ruf dich heute Abend an, okay? Es tut mir wirklich Leid.“
„Tu dir keinen Zwang an,“ hörte er sie noch sagen, aber es klang leise. Scheinbar hatte sie das Handy bereits vom Ohr genommen und im nächsten Moment legte sie auch schon auf.
„Schöne Scheiße,“ knurrte er, sah nach oben und blieb dann wie angewurzelt stehen. Das Handy fiel ihm von der Schulter und blieb auf der Stufe vor ihm liegen.
Cindy, die bis eben noch an seine Tür gelehnt dagesessen hatte, stand nun verschämt auf, als wäre sie bei etwas Verbotenem erwischt worden. Neben ihr lag ein hässlicher, olivgrüner Rucksack.
Mit wachsender Ablehnung musterte Luke ihre Kleidung. Sie trug zerschlissene, schmutzige Jeans und einen viel zu großen Parka. Die blonden Haare waren verfilzt und zu einem strähnigen Zopf zusammengebunden.
Vorsichtig kam sie näher, hob sein Handy auf und drehte es prüfend in den knochigen Händen, scheinbar froh, ihn nicht ansehen zu müssen.
Er drängte sich an ihr vorbei die letzten Stufen hinauf. Dann stellte er die Einkaufstüten wie eine Mauer vor seiner Tür auf.
„Hi Luki.“ Cindy hielt sein Handy nun mit einer Hand und strich sich mit der anderen immer wieder eine Haarsträhne hinter das linke Ohr.
„Hi.“ Der Klang seiner Stimme ließ sie zusammenzucken.
Mit glänzenden Augen begann sie auf ihren Fingernägeln herumzukauen. Das klickende Geräusch ging ihm durch Mark und Bein.
„Wenn du mich wieder um Geld bitten willst -“
„Nein!“ Beinahe entsetzt schrak sie auf und sah aus wie ein Reh im Fernlicht eines Autos. „Nein. Dass ich einfach meinen kleinen Bruder besuchen wollte, kaufst du mir sicher nicht ab, oder?“ Sie lächelte unsicher.
Die Tür zu seiner Rechten öffnete sich einen Spalt und Sarah Parker, eine Frau mittleren Alters, spähte unverhohlen neugierig heraus. Luke haderte noch mit sich, schloss dann aber die Tür auf und winkte seine Schwester hinein.
„Danke.“
Cindy nahm die Hühnerbrühe entgegen, die Luke ihr reichte und nippte vorsichtig daran. Im grellen Küchenlicht sah sie noch schlimmer aus als draußen im Flur. Luke hatte die Hände in die Hüften gestemmt und wusste nicht so recht, was er mit sich anfangen sollte.
„Und?“, warf er in den Raum und hasste sich gleichzeitig wieder für den Ton in seiner Stimme. Seine Schwester blickte nicht von ihrer Tasse auf.
„Linda – ist das deine Freundin?“
„Ja. Oder sie war es, keine Ahnung. Das erfahre ich wohl heute Abend.“
Sekundenlang schwiegen sie sich an. Cindy rührte unbehaglich in ihrer Brühe.
„Ich... bräuchte eine Weile einen Platz zum Schlafen,“ meinte sie dann fast beiläufig. „Nur vorübergehend, weißt du...“
„Du meinst wohl einen Platz zum Verstecken. Mit was für Typen hast du dich diesmal eingelassen?“
Ihre Knöchel traten hervor, als sie die Tasse fester umklammerte.
„Da hältst du dich besser raus.“
Wenigstens leugnete sie es nicht. Luke wusste allerdings nicht recht, ob er sich darüber freuen sollte. Spätestens, wenn irgendwelche Schläger seine Wohnung auf den Kopf stellten und ihn totprügelten, würde er es wissen.
„Wie bist du in diese ganze Scheiße nur reingeraten?“, fragte er und endlich sah sie auf. Trotz blitzte in ihren Augen auf, dann wurde ihr Blick wieder stumpf wie der eines gefangenen Tieres.
„Keine Predigten, bitte,“ sagte sie leise.
„Bist du dagegen nicht mittlerweile immun?“, fragte er bissig. In der Hosentasche kramte er nach seinen Zigaretten und schwor sich zum zwölften Mal in dieser Woche, es sich abzugewöhnen. Morgen.
„Ist das da alles, was du besitzt?“ Die Zigarette in seinem Mundwinkel tanzte. Er steckte sie sich an und nahm einen tiefen Zug.
Als hätte er es auf ihren Rucksack abgesehen, zog sie ihn mit dem Fuß näher zu sich heran.
„Cindy... sieh dich doch an. Wieso machst du dich so kaputt?“
Sie war in ihrem Stuhl zusammengesunken, hatte beide Hände zu Fäusten geballt und vor sich auf den Tisch gelegt. Trotzdem konnte Luke das nervöse Zittern ihrer Finger sehen.
„Ich kümmer mich schon um mich selbst.“
„Das seh ich.“ Er ging auf sie zu und sie wich vor ihm zurück. Dann nahm er ihren linken Arm, zog trotz ihres eher verhaltenen Widerstandes den Ärmel des Parkas zurück.
„So nennst du das also.“ Die Zigarette schmeckte plötzlich ekelhaft und er zerdrückte sie achtlos auf dem Küchentisch. Überall in der Armbeuge sah er Einstichlöcher, deren Ränder blau geworden waren. Narben zogen sich über ihre Unterarme, einige schlimmer als andere. Entsetzt fragte Luke sich, wie oft seine Schwester wohl versucht hatte, sich so oder auf andere Art das Leben zu nehmen.
Als wäre sie selbst einen Moment vom Anblick ihres Armes grausam fasziniert gewesen, riss sie sich los und flüchtete in die andere Ecke des Raumes. In ihrer Miene spiegelten sich Gefühle, die Luke nicht deuten konnte.
„Komm doch einmal von deinem beschissen hohen Ross runter, Luke!“, schrie sie ihn an und umklammerte ihre Schultern. „Glaubst du, es macht mir Spaß, so zu leben? Ich scheiß auf dich, Lukas! Wie konnte ich nur so dumm sein und dich um Hilfe bitten?“
„Das kann ich dir sagen, Junkie! Die Sucht hat dich hergetrieben!“ Wütend riss er seinen Geldbeutel aus der hinteren Hosentasche und warf etwa fünfzig Dollar auf den Tisch.
„Deswegen bist du doch hier, Cindy. Da. Nimm das Geld, aber teil`s dir gut ein.“
Du bist ein Egoist, Lukas. Immer denkst du nur an dich.
Sie sah ihn an, wie man einen Freund ansehen würde, der gerade versucht hatte, einen vor den nächstbesten LKW zu stoßen. Ihre Augen zuckten zu den Geldscheinen und er wusste, dass sie sie nehmen würde.
Langsam kam sie wieder näher. Mit spitzen Fingern sammelte sie das Geld ein, zog ihren Rucksack unter dem Tisch hervor und wich dabei gekonnt seinem Blick aus. Luke war viel zu aufgebracht, um auch nur daran zu denken, sich bei ihr zu entschuldigen. Stattdessen trat er zurück, damit sie sich an ihm vorbei zur Tür schieben konnte.
Dort drehte sie sich noch einmal kurz um. Ihr Anblick versetzte Luke einen Stich.
„Mach`s gut, Luki.“
„Du auch. Und... pass auf dich auf.“
Bei seinen letzten Worten war sie bereits halb zur Tür hinaus gewesen. Seufzend ließ er sich auf einen Stuhl sinken. Ihre Brühe dampfte noch.
Gegenwart
„Ist sie das, Mr. Gray?“
„Lassen Sie dem Mann noch einen Augenblick Zeit,“ hörte er die Stimme des Gerichtsmediziners und spürte dann, wie er den Kopf schüttelte. Seine Augen blieben trotzdem wie festgetackert auf dem eingefallenen Gesicht seiner Schwester kleben, die auf dem kalten Stahl vor ihm lag.
„Ja, das ist sie. Das ist Cindy.“
„Sie wurde im Stadtpark gefunden,“ erklärte der Detective wahrscheinlich automatisch. Luke starrte noch immer auf ihr weißes Gesicht. Auf die kleine Narbe an ihrer Stirn, die sie sich vor vielen Jahren zugezogen hatte, als sie von einem Baum gefallen war. Damals hatte er sich fürchterlich erschrocken, weil sie eine ganze Weile still liegen geblieben war. Doch sie war wieder aufgestanden. Heute würde sie liegen bleiben.
„Und... was-?“ Seine Stimme versagte und er kämpfte einen Laut nieder, der in seiner Kehle saß.
„Überdosis,“ antwortete der Weißkittel. Luke nickte und riss sich endlich von ihrem Anblick los.
„Können wir – ich möchte das schnell hinter mich bringen. Ich muss bestimmt noch irgendwo unterschreiben...“
„Oh.“ Der Detective wirkte wie aufgeschreckt. „Natürlich. Kommen Sie.“
Luke wandte sich ab. Während er auf den Ausgang zusteuerte, wurde er immer schneller. Am Schluss rannte er fast.
Aber er sah sich nicht noch einmal um.