Sahlene
Sinful Hypocrite...
Hallöchen.
Wieder mal eine Kurzgeschichte von mir, wieder mal ziemlich depri, aber mit einem, wie ich finde, recht optimistischen Ende, zumindest, wenn man das Thema berücksichtigt.
Ich hatte wieder eine relativ depressive Phase, die bei mir meistens zu irgendwelchen kreativen Ergüssen führt. Inspiration waren diesmal meine Laune und ein kleiner roter Ball, der in diesem Januar auf einem See in meinem Heimatbezirk lag. Okay, es IST lange her, aber ich habe wirklich hart hier dran gearbeitet, das hat eben gedauert.
Ich würde mich über ein paar Kommentare freuen.
Anmerkung: Es ist Absicht, dass ich zwischen Imperfekt und Präsens pendele.
Mein erster Winter
Alec lachte und trat mit dem linken Fuß kräftig gegen den roten Ball. Ein knallendes Geräusch ertönte und in hohem Bogen flog der Ball hoch in die Luft, vorbei am eisblauen Himmel, beschrieb eine lange, schön geschwungene Kurve, passierte vor Kälte in ihren Bewegungen eingeschlossene Wolken und kam nach wenigen Augenblicken, die doch wie eine Ewigkeit schienen, wieder auf dem schneebedeckten Boden auf, wo er ein paar Mal auf- und absprang, feinen Schneestaub mit sich hochreißend, um schließlich einen Abhang herunter an das flache Ufer des zugefrorenen Sees zu rollen, auf das Eis zu kullern und dort auf der Mitte des Badesees liegenzubleiben.
„Das war schlecht“, sagte Alec mürrisch und stapfte durch den hohen Schnee auf den See zu, lange Fußspuren hinterlassend. Ein föhliches Glucksen hinter ihm ließ den Jungen wütend und peinlich berührt herumfahren.
„Mach dich nicht lustig“, forderte Alec seinen älteren Bruder auf. „Das hätte dir genauso passieren können!“
Will grinste und blickte auf das vor Kälte gerötete Gesicht Alecs herab. „Das hätte mir allerdings passieren können“, gab er zu und zog seine Handschuhe etwas fester an, weil seine Finger inzwischen kaum noch zu spüren waren. „Aber es ist dir passiert, nicht wahr?“
Alec hob die vor Kälte triefende Nase und starrte seinen Bruder störrisch an. Will ahnte, was jetzt kommen würde. Es war immer das Gleiche mit seinem kleinen, ungestümen, nichtsnutzigen Geschwisterkind, das immer nur an eine Lösung für ein Problem glaubte – seine eigene.
„Falls du jetzt vorhast, auf das Eis zu gehen und den Ball zu holen, sage ich dir was: Auf gar keinen Fall. Mom bringt mich um, wenn du einbrichst und erfrierst.“
Der Jüngere starrte noch immer trotzig
Will seufzte. „Warte, bis das Eis im Frühling geschmolzen ist, dann wird der Ball ganz von allein ans Ufer getrieben. Denn wenn du wirklich einbrichst, springe ich dir garantiert nicht nach.“
Auf Alecs Gesicht breitete sich ein wissendes Lächeln aus. Er musste kein Wort sagen, doch die Erkenntnis schwebte zwischen den beiden so sicher wie ein Vogel am Himmel: Natürlich würde Will springen. Immer und Überall.
Sie ließen den Ball auf dem Eis liegen.
Ein quietschender Wagen. Warum kommt das Auto auf uns zu? Es ist rot lackiert, schön rot wie eine Tulpe. Warum kommt es mir dann so hässlich vor?
Lärm. Schreie. Der Knall einer Autotür. Warum liegt Will dort auf der Straße?
Ich kniee im Schnee. Meine Handschuhe sind schmierig und durchnässt von Rot. Ist das Blut? Ich friere. Auf meinen Wangen erstarren Tränen zu Eisperlen. Will starrt mich aus unbewegten Augen an. Will?
Seine Hand ist kalt. Aber du trägst doch Handschuhe.
Noch ein roter Wagen. Ich schreie. Über wessen Körper beuge ich mich schützend? Wessen Blut färbt den Schnee rot?Blaues Licht erfasst mich. Wo bin ich?
Alec erwacht in einem weißen Raum. Eine weiße Frau beugt sich über ihn und lächelt ihm freundlich zu. Sie hat dunkle Augen in einem Gesicht wie aus Porzellan. Seine Pupillen schmerzen. Sie strahlt wie ein Engel, aber Alec ahnt, dass es nur die Lampe an der Decke ist, die ihm den Himmel vorgaukelt.
„Du bist aufgewacht. Warte einen Augenblick, ich hole deine Eltern.“
Der Junge starrt ihr verständnislos hinterher. Sein Unterbewusstsein erfasst ein gleichmäßiges Piepsen neben sich. Alec dreht sich um. Ein grüner Strich, auf und ab hüpfend, begleitet von einem schrillen Laut. Hat er das schon einmal im Fernsehen gesehen?
Eine verglaste Tür am Ende des Raumes wird abrupt aufgestoßen und zwei bleiche, zusammengekrümmte Gestalten treten ein. Mom. Dad.
Seine Mutter hat Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. Ihre Unterlippe zittert unkontrolliert und ihre Augen sind rot von vielen, unzählig vielen vergossenen Tränen. Sein Vater umklammert den Arm der Frau und beißt die Zähne zusammen, als könnte jeder ihm entschlüpfende Laut ihn verraten.
„Mom, Dad...“, sagt Alec schwach. „Warum muss ich hier liegen?“ Sein Kopf tut weh. Er tastet nach seinem Schädel, um zu erfühlen, ob alles in Ordnung ist, doch um seine Stirn ist eine Bandage gelegt worden. Also nicht alles in Ordnung.
Mit einem lauten Schluchzer bricht sich die Verzweiflung seiner Mutter Bahn. Sie fällt mitten im Raum, auf den Fliesen, in sich zusammen, ungehemmt schluchzend, unfähig, sich zusammenzureißen. Alec’s Dad hilft der Frau, sich auf eine freie Liege neben Alec’s Bett zu setzen, dann wendet er sich seinem Sohn zu, so ernst wie nie zuvor, in seinen Augen ein derartiger Schmerz, dass es Alec schwerfällt, zuzuhören, als der Mann zu sprechen beginnt.
„Will... er ist... er ist“, Alec’s Vater hebt die Hand vor den Mund, um sich unter Kontrolle zu bringen. Gott, das war so schwer... „tot...“, beendet er seinen Satz, um dann sein Gesicht in beiden Händen zu vergraben und seinen Tränen ebenfalls freien Lauf zu lassen.
Will? Tot? Das war so lächerlich. So dermaßen lächerlich, dass Alec im ersten Moment glaubte, jemand spiele ihm einen schlechten Scherz. Will war nicht tot. Konnte er gar nicht. Nie hätte doch Will ihn allein gelassen.
Aber die Gesichter seiner Eltern erzählten eine andere Geschichte, eine schrecklich andere Geschichte.
Mit leisen, tastenden Schritten schlich sich das Wissen in Alec’s Verstand, setzte sich fest und begann dann, langsam, aber unnachgiebig, in das Ohr des Jungen jene schrecklichen Worte zu füstern, die sein Denken auslöschen würden.
Will ist tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot.
“Will ist tot”, flüsterte Alec. Die Welt versank in Schmerz.
Zuhause existierte nicht mehr. Das Leben war weitergegangen und hatte Alec in einem kalten, leeren Raum zurückgelassen, dessen Wände aus Verlust bestanden.
Er wusste, Will hätte gewollt, dass Alec sein Leben genoss, dass er einfach weitermachte. Er war sein Bruder gewesen, natürlich hätte er nicht gewollt, dass sich Alec von innen zerfressen ließ.
Du hast mich hier zurückgelassen. Das verzeihe ich dir nie.
Alec wurde still. Und seine Eltern wurden still. Am abendlichen Esstisch sprach keiner ein Wort von Will, gelegentlich wurde um die Butter gebeten, Alec’s Dad erzählte mit monotoner Stimme von seinen alltäglichen Problemen, Alec’s Mom berichtete von ihren Einkaufstouren. Hohl. Bedeutungslos angesichts der Tragödie, die ihr Leben zerstört hatte. Alec schwieg und versuchte, sich vorzustellen, wie Will ihn angrinste und um ein bisschen mehr Lauch bat. Aber es ging nicht. Drei Wochen nach dem Unfall war sein Bild verschwommen.
Er würde es hassen, wenn er jetzt hier wäre. Er würde Witze erzählen und lachen und die Stimmung aufhellen. Wo Will war, war auch immer Sonne gewesen. Alec war eifersüchtig, dass jetzt im Paradies die Sonne schien, die er sich doch auf der Erde wünschte.
Es war ein Fehler, nicht darüber zu sprechen, sich nicht gemeinsam hinzusetzen, nicht darüber zu reden, nicht zusammen zu weinen. Sie verschlossen ihren Schmerz in ihrem Inneren und hofften, wenn sie ihn nur lange genug verschlossen hielten, würde er eines Tages wie von selbst verschwinden. Sie merkten nicht, wie der Schmerz sich ausbreitete, ihre klammen Herzen packte und sich hinein bohrte, unaufhörlich und tödlich grausam. Alec weinte, doch keine einzige Träne benetzte seine Wangen.
Die Trauerfeier war steril und unpersönlich. In einem geschlossenen Mahagonisarg mit Goldbeschlägen wurde Wills Leiche, von weißen und gelben Blumen umgeben, den Angehörigen präsentiert. Sie alle versicherten ihre Trauer und Anteilnahme, doch Alec sah es ihnen an, wie unwohl sie sich fühlten, wie sehr sie sich wünschten, gehen zu dürfen, um nicht länger in Anwesenheit des Todes verweilen zu müssen.
Er selbst wollte nicht gehen. Hätte er gekonnt, er hätte sich zu Will in den Sarg gelegt und wäre den letzten Weg ins Feuer mit ihm zusammen gegangen.
Der Winter ging, doch die Kälte blieb. Alecs Lächeln war gefroren. Konserviert. Alec wusste nicht, ob es jemals wieder auftauen würde.
Und dann kam der Frühling.
Alec war auf dem Weg nach Hause. Er kam von der Schule. Er versuchte, sich daran zu erinnern, was sie an diesem Tag durchgenommen hatten, doch die Erinnerung war undeutlich und verwischt. Unwichtig. Nichts hatte mehr Wert.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, nahm Alec den langen Weg um den See herum. Er war nicht der einzige. Das schöne Wetter hatte viele Leute in den Park getrieben, wo sie das warme Licht, was durch grün knospende Baumkronen schien, genossen. Alec versuchte, die Augen zu schließen und die Vergangenheit auszublenden, doch der Verlust war allgegenwärtig. Er war eifersüchtig auf all jene, die jetzt unbeschwert lachen konnten.
Rotglänzend schimmerte es durch das Schilf. Der Ball, der kleine rote Ball hatte sich hinter einigen im Wasser liegenden toten Ästen verborgen, doch seine kräftige Farbe ließ sich dennoch nicht verstecken. Ohne zu zögern, sprang Alec ins Wasser, seine Kleidung und seinen Rucksack einfach ignorierend.
Da war er. Rot wie das Blut, welches zu verlieren Will das Leben gekostet hatte.
Warte, bis das Eis im Frühling geschmolzen ist, dann wird der Ball ganz von allein ans Ufer getrieben.
Alec weinte. Er hatte monatelang erfolgreich die Tränen zurückgehalten, jetzt waren es zu viele, als dass sein Körper es ausgehalten hätte, seinem Kummer nicht Ausdruck verleihen zu dürfen.
Alec weinte lange, den Ball fest an seine Brust gepresst, und mit jeder Träne wurde sein schweres Herz leichter, bis das Leid, das sich bereits so fest eingegraben hatte, sich zu lösen gezwungen wurde.
Als Alec aufhörte zu weinen, lächelte er.
Und irgendwo lächelte Will.
Denn sein Bruder lebte.
Ich weinte, als ich dieses Ende schrieb. Das wollte ich nur noch sagen. Vielen Dank für’s Lesen.
Bye
Sahlene
Wieder mal eine Kurzgeschichte von mir, wieder mal ziemlich depri, aber mit einem, wie ich finde, recht optimistischen Ende, zumindest, wenn man das Thema berücksichtigt.
Ich hatte wieder eine relativ depressive Phase, die bei mir meistens zu irgendwelchen kreativen Ergüssen führt. Inspiration waren diesmal meine Laune und ein kleiner roter Ball, der in diesem Januar auf einem See in meinem Heimatbezirk lag. Okay, es IST lange her, aber ich habe wirklich hart hier dran gearbeitet, das hat eben gedauert.
Ich würde mich über ein paar Kommentare freuen.
Anmerkung: Es ist Absicht, dass ich zwischen Imperfekt und Präsens pendele.
Mein erster Winter
Alec lachte und trat mit dem linken Fuß kräftig gegen den roten Ball. Ein knallendes Geräusch ertönte und in hohem Bogen flog der Ball hoch in die Luft, vorbei am eisblauen Himmel, beschrieb eine lange, schön geschwungene Kurve, passierte vor Kälte in ihren Bewegungen eingeschlossene Wolken und kam nach wenigen Augenblicken, die doch wie eine Ewigkeit schienen, wieder auf dem schneebedeckten Boden auf, wo er ein paar Mal auf- und absprang, feinen Schneestaub mit sich hochreißend, um schließlich einen Abhang herunter an das flache Ufer des zugefrorenen Sees zu rollen, auf das Eis zu kullern und dort auf der Mitte des Badesees liegenzubleiben.
„Das war schlecht“, sagte Alec mürrisch und stapfte durch den hohen Schnee auf den See zu, lange Fußspuren hinterlassend. Ein föhliches Glucksen hinter ihm ließ den Jungen wütend und peinlich berührt herumfahren.
„Mach dich nicht lustig“, forderte Alec seinen älteren Bruder auf. „Das hätte dir genauso passieren können!“
Will grinste und blickte auf das vor Kälte gerötete Gesicht Alecs herab. „Das hätte mir allerdings passieren können“, gab er zu und zog seine Handschuhe etwas fester an, weil seine Finger inzwischen kaum noch zu spüren waren. „Aber es ist dir passiert, nicht wahr?“
Alec hob die vor Kälte triefende Nase und starrte seinen Bruder störrisch an. Will ahnte, was jetzt kommen würde. Es war immer das Gleiche mit seinem kleinen, ungestümen, nichtsnutzigen Geschwisterkind, das immer nur an eine Lösung für ein Problem glaubte – seine eigene.
„Falls du jetzt vorhast, auf das Eis zu gehen und den Ball zu holen, sage ich dir was: Auf gar keinen Fall. Mom bringt mich um, wenn du einbrichst und erfrierst.“
Der Jüngere starrte noch immer trotzig
Will seufzte. „Warte, bis das Eis im Frühling geschmolzen ist, dann wird der Ball ganz von allein ans Ufer getrieben. Denn wenn du wirklich einbrichst, springe ich dir garantiert nicht nach.“
Auf Alecs Gesicht breitete sich ein wissendes Lächeln aus. Er musste kein Wort sagen, doch die Erkenntnis schwebte zwischen den beiden so sicher wie ein Vogel am Himmel: Natürlich würde Will springen. Immer und Überall.
Sie ließen den Ball auf dem Eis liegen.
Ein quietschender Wagen. Warum kommt das Auto auf uns zu? Es ist rot lackiert, schön rot wie eine Tulpe. Warum kommt es mir dann so hässlich vor?
Lärm. Schreie. Der Knall einer Autotür. Warum liegt Will dort auf der Straße?
Ich kniee im Schnee. Meine Handschuhe sind schmierig und durchnässt von Rot. Ist das Blut? Ich friere. Auf meinen Wangen erstarren Tränen zu Eisperlen. Will starrt mich aus unbewegten Augen an. Will?
Seine Hand ist kalt. Aber du trägst doch Handschuhe.
Noch ein roter Wagen. Ich schreie. Über wessen Körper beuge ich mich schützend? Wessen Blut färbt den Schnee rot?Blaues Licht erfasst mich. Wo bin ich?
Alec erwacht in einem weißen Raum. Eine weiße Frau beugt sich über ihn und lächelt ihm freundlich zu. Sie hat dunkle Augen in einem Gesicht wie aus Porzellan. Seine Pupillen schmerzen. Sie strahlt wie ein Engel, aber Alec ahnt, dass es nur die Lampe an der Decke ist, die ihm den Himmel vorgaukelt.
„Du bist aufgewacht. Warte einen Augenblick, ich hole deine Eltern.“
Der Junge starrt ihr verständnislos hinterher. Sein Unterbewusstsein erfasst ein gleichmäßiges Piepsen neben sich. Alec dreht sich um. Ein grüner Strich, auf und ab hüpfend, begleitet von einem schrillen Laut. Hat er das schon einmal im Fernsehen gesehen?
Eine verglaste Tür am Ende des Raumes wird abrupt aufgestoßen und zwei bleiche, zusammengekrümmte Gestalten treten ein. Mom. Dad.
Seine Mutter hat Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. Ihre Unterlippe zittert unkontrolliert und ihre Augen sind rot von vielen, unzählig vielen vergossenen Tränen. Sein Vater umklammert den Arm der Frau und beißt die Zähne zusammen, als könnte jeder ihm entschlüpfende Laut ihn verraten.
„Mom, Dad...“, sagt Alec schwach. „Warum muss ich hier liegen?“ Sein Kopf tut weh. Er tastet nach seinem Schädel, um zu erfühlen, ob alles in Ordnung ist, doch um seine Stirn ist eine Bandage gelegt worden. Also nicht alles in Ordnung.
Mit einem lauten Schluchzer bricht sich die Verzweiflung seiner Mutter Bahn. Sie fällt mitten im Raum, auf den Fliesen, in sich zusammen, ungehemmt schluchzend, unfähig, sich zusammenzureißen. Alec’s Dad hilft der Frau, sich auf eine freie Liege neben Alec’s Bett zu setzen, dann wendet er sich seinem Sohn zu, so ernst wie nie zuvor, in seinen Augen ein derartiger Schmerz, dass es Alec schwerfällt, zuzuhören, als der Mann zu sprechen beginnt.
„Will... er ist... er ist“, Alec’s Vater hebt die Hand vor den Mund, um sich unter Kontrolle zu bringen. Gott, das war so schwer... „tot...“, beendet er seinen Satz, um dann sein Gesicht in beiden Händen zu vergraben und seinen Tränen ebenfalls freien Lauf zu lassen.
Will? Tot? Das war so lächerlich. So dermaßen lächerlich, dass Alec im ersten Moment glaubte, jemand spiele ihm einen schlechten Scherz. Will war nicht tot. Konnte er gar nicht. Nie hätte doch Will ihn allein gelassen.
Aber die Gesichter seiner Eltern erzählten eine andere Geschichte, eine schrecklich andere Geschichte.
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“Will ist tot”, flüsterte Alec. Die Welt versank in Schmerz.
Zuhause existierte nicht mehr. Das Leben war weitergegangen und hatte Alec in einem kalten, leeren Raum zurückgelassen, dessen Wände aus Verlust bestanden.
Er wusste, Will hätte gewollt, dass Alec sein Leben genoss, dass er einfach weitermachte. Er war sein Bruder gewesen, natürlich hätte er nicht gewollt, dass sich Alec von innen zerfressen ließ.
Du hast mich hier zurückgelassen. Das verzeihe ich dir nie.
Alec wurde still. Und seine Eltern wurden still. Am abendlichen Esstisch sprach keiner ein Wort von Will, gelegentlich wurde um die Butter gebeten, Alec’s Dad erzählte mit monotoner Stimme von seinen alltäglichen Problemen, Alec’s Mom berichtete von ihren Einkaufstouren. Hohl. Bedeutungslos angesichts der Tragödie, die ihr Leben zerstört hatte. Alec schwieg und versuchte, sich vorzustellen, wie Will ihn angrinste und um ein bisschen mehr Lauch bat. Aber es ging nicht. Drei Wochen nach dem Unfall war sein Bild verschwommen.
Er würde es hassen, wenn er jetzt hier wäre. Er würde Witze erzählen und lachen und die Stimmung aufhellen. Wo Will war, war auch immer Sonne gewesen. Alec war eifersüchtig, dass jetzt im Paradies die Sonne schien, die er sich doch auf der Erde wünschte.
Es war ein Fehler, nicht darüber zu sprechen, sich nicht gemeinsam hinzusetzen, nicht darüber zu reden, nicht zusammen zu weinen. Sie verschlossen ihren Schmerz in ihrem Inneren und hofften, wenn sie ihn nur lange genug verschlossen hielten, würde er eines Tages wie von selbst verschwinden. Sie merkten nicht, wie der Schmerz sich ausbreitete, ihre klammen Herzen packte und sich hinein bohrte, unaufhörlich und tödlich grausam. Alec weinte, doch keine einzige Träne benetzte seine Wangen.
Die Trauerfeier war steril und unpersönlich. In einem geschlossenen Mahagonisarg mit Goldbeschlägen wurde Wills Leiche, von weißen und gelben Blumen umgeben, den Angehörigen präsentiert. Sie alle versicherten ihre Trauer und Anteilnahme, doch Alec sah es ihnen an, wie unwohl sie sich fühlten, wie sehr sie sich wünschten, gehen zu dürfen, um nicht länger in Anwesenheit des Todes verweilen zu müssen.
Er selbst wollte nicht gehen. Hätte er gekonnt, er hätte sich zu Will in den Sarg gelegt und wäre den letzten Weg ins Feuer mit ihm zusammen gegangen.
Der Winter ging, doch die Kälte blieb. Alecs Lächeln war gefroren. Konserviert. Alec wusste nicht, ob es jemals wieder auftauen würde.
Und dann kam der Frühling.
Alec war auf dem Weg nach Hause. Er kam von der Schule. Er versuchte, sich daran zu erinnern, was sie an diesem Tag durchgenommen hatten, doch die Erinnerung war undeutlich und verwischt. Unwichtig. Nichts hatte mehr Wert.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, nahm Alec den langen Weg um den See herum. Er war nicht der einzige. Das schöne Wetter hatte viele Leute in den Park getrieben, wo sie das warme Licht, was durch grün knospende Baumkronen schien, genossen. Alec versuchte, die Augen zu schließen und die Vergangenheit auszublenden, doch der Verlust war allgegenwärtig. Er war eifersüchtig auf all jene, die jetzt unbeschwert lachen konnten.
Rotglänzend schimmerte es durch das Schilf. Der Ball, der kleine rote Ball hatte sich hinter einigen im Wasser liegenden toten Ästen verborgen, doch seine kräftige Farbe ließ sich dennoch nicht verstecken. Ohne zu zögern, sprang Alec ins Wasser, seine Kleidung und seinen Rucksack einfach ignorierend.
Da war er. Rot wie das Blut, welches zu verlieren Will das Leben gekostet hatte.
Warte, bis das Eis im Frühling geschmolzen ist, dann wird der Ball ganz von allein ans Ufer getrieben.
Alec weinte. Er hatte monatelang erfolgreich die Tränen zurückgehalten, jetzt waren es zu viele, als dass sein Körper es ausgehalten hätte, seinem Kummer nicht Ausdruck verleihen zu dürfen.
Alec weinte lange, den Ball fest an seine Brust gepresst, und mit jeder Träne wurde sein schweres Herz leichter, bis das Leid, das sich bereits so fest eingegraben hatte, sich zu lösen gezwungen wurde.
Als Alec aufhörte zu weinen, lächelte er.
Und irgendwo lächelte Will.
Denn sein Bruder lebte.
Ich weinte, als ich dieses Ende schrieb. Das wollte ich nur noch sagen. Vielen Dank für’s Lesen.
Bye
Sahlene