Mai und Lyle

einsame wölfin

Träumerin in den Zeiten
Nach langer Abwesenheit zieht es mich doch wieder hierher zurück ;)

Erstmal die Plfichtangaben:
Autor: Ich, einsame wölfin
Titel: der perfekte Titel fehlt noch, vorläufig: Mai und Lyle
Teile: ich schätze ca. 15 Kapitel
Genre: Action, Drama, Fantasy, Romanze alles mögliche eben ;)
Serie (Original oder Fanfiction): Original

Disclaimer: Die Geschichte ist mein geistiges Eigentum, sollte es Ähnlichkeiten zu Personen/Handlungen geben, so sind diese nicht beabsichtigt.

Die Story ist auf meinem PC schon relativ weit entwickelt, aber nach monatelanger Arbeit alleine, nur der Bildschirm und ich, möchte ich jetzt doch gerne ausprobieren, wie meine Ideen von den Lesern empfunden werden. Ich stecke mittlerweile gedanklich so tief drin, dass mir der Blick von oben fehlt und um genau den bitte ich euch.
Kommentare und Kritik sind ausdrücklich erwünscht


Kapitel 1

Es war kein guter Tag. Mal abgesehen von den eisigen Nebelschwaden, die vor dem Fenster die Landschaft in ein unheimliches Grau tauchten, war es vor allem seine Laune. Die war heute auf dem ultimativen Tiefpunkt und dass er auch noch da raus musste, um sich mit ein paar wild gewordenen Kabeln zu duellieren, machte die Sache noch schlimmer. Außerdem stand sein bester Freund und Weggefährte schon seit geschlagenen fünf Minuten in seiner Zimmertüre und war der Meinung, er würde es nicht bemerken. Lyle verzog die Lippen zu einem abschätzigen Lächeln, wirbelte herum und drückte Raphael die blank polierte Klinge seines Langschwertes gegen die Halsschlagader.
„Ich hab dir schon mal gesagt, dass du das lassen sollst.“ Raphael schnappte erschrocken nach Luft und das geschah ihm ganz recht. Lyle ließ das Schwert sinken und konnte sich bei dem vorwurfsvollen Blick seines Mitbewohners, der sich jetzt auch noch den Hals massierte, ein schafendrohes Grinsen nicht verkneifen.
„Manchmal hab ich das Gefühl, dass du vergisst, dass wir so was wie Freunde sind.“ Was schlich sich Raphael auch einfach so merkwürdig an und beobachtete ihn die ganze Zeit. Er hasste das.
„Was willst du?“ Seine Stimme klang finsterer als beabsichtigt und er registrierte, wie Raphael ihn nun mit einem Hauch von Sorge musterte. Noch schlimmer.
„Gehst du noch weg?“
„Ja.“
„Darf ich fragen wohin?“
„Ein Auftrag.“ Raphael sah ihn durchdringend an, ein Blick, der normalerweise zu Lyles Repertoire gehörte.
„Und was für ein Auftrag?“
„Das geht dich nichts an.“ Ob er wollte oder nicht.
„Natürlich nicht.“ Raphael verdrehte die Augen und Lyle ließ das Schwert in den Waffengurt gleiten und warf ihn sich, wie immer, über den Rücken.
„Ich hab zu tun, lass mich durch.“ Unsanft schob er sich an Raphael vorbei. Er musste die Sache erledigen bevor es dunkel wurde.
„Lyle, warte.“
„Was?“
„Wir sind heute Abend in der kleinen Kneipe am Kirchplatz, wenn du Lust hast, kannst du ja auch vorbei kommen.“
„Wir?“ Skeptisch zog er eine Augenbraue in die Höhe und musterte seinen besten Freund. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, was wir bedeutete.
„Na ich und ein paar unserer Kollegen. Und ohne dir zu nahe treten zu wollen, es würde dir nicht schaden mal wieder unter Menschen zu kommen.“
„Natürlich.“ War er nicht ständig unter Menschen wenn er arbeitete? Reichte das nicht?
„Ich mein das ernst.“
„Pff.“ Er war alt genug um selbst über seine sozialen Kontakte zu entscheiden. Beschwichtigend hob Raphael die Hände und trat an die Voliere um Mailoon zu begrüßen. Der Turmfalke stieß ein warnendes Fauchen aus und hastig zog sich sein Mitbewohner zurück. Lyle verdrehte die Augen, die beiden würde wohl auch nie warm miteinander werden.
„Komm schon, Lyle, ich geb dir auch ein Bier aus, hm?“
„Hältst du dich für meinen Beschäftigungstherapeut?“
„Bist du wahnsinnig? Ich hab nicht vor depressiv zu werden“, feixte Raphael.
„Zu Schade.“
„Und wenn ich ganz lieb bitte sage?“ Seinen besten Dackelblick aufsetzend, sah Raphael ihn an und Lyle musste gegen seinen Willen lachen.
„Ist ja gut.“ Er fuhr sich seufzend durch die Haare.
„Vielleicht komm ich vorbei.“ Er verabschiedete sich mit einem knappen Nicken. Raphael meinte es nur gut und das wusste er auch. Dennoch stand ihm der Sinn eigentlich nicht nach einem Abend in der Kneipe. Außerdem hatte er noch eine Aufgabe.

Die Kälte raubte ihm im ersten Moment schier den Atem. Seit der Katastrophe vor einem Jahr schien sich das Klima rapide zu verändern und die Jahreszeiten gerieten dabei durcheinander. Kein Wunder, dass es kaum noch Pflanzen in der Stadt gab. So vergrub Lyle das Gesicht in seinem Schal und klappte den Kragen der Lederjacke nach oben und versuchte nicht daran zu denken, dass es im Frühsommer eigentlich nicht so kalt sein dürfte. Mit festen Schritten verließ er die großzügige Holzplattform des Regierungsturms und trat auf den schmalen Bretterweg. Es galt ein paar Kabel abzuschneiden, damit die Bauarbeiten an den Holzstegen weiter gehen konnten. Wieso hatte er diesen verfluchten Job nicht einfach abgelehnt?

Es hatte immer noch nicht angefangen zu regnen und er war mehr als froh darüber. Die Dunkelheit fraß sich durch die Häuserruinen, als Lyle auf dem Weg in die Kneipe war. Alles hatte geklappt wie er es geplant hatte und er war zufrieden. Daher wohl auch die Entscheidung Raphael tatsächlich den Gefallen zu tun und zu einem Männerabend unter Kollegen zu gehen. Etwas wovor es Lyle regelrecht graute, aber er wusste auch, dass er Raphael bei Laune halten musste. In letzter Zeit war er mehr als anstrengend gewesen und er rechnete es seinem Mitbewohner hoch an, dass er es überhaupt mit ihm aushielt. Und gegen ein Feierabendbier war nichts einzuwenden, er hatte es sich verdient.

Lyle erreichte die ersten beleuchteten Häuser und drang in den Teil der Stadt vor, der belebt war. Das Haus, in dem sich die Kneipe befand war kaum zerstört worden und bot eine der wenigen Möglichkeiten auszugehen. Innen drin war es hoffnungslos überfüllt und Lyle knirschte mit den Zähnen. Menschen, überall Menschen, die sich rücksichtslos aneinander vorbei schoben, laut redeten und dem Alkohol frönten. Sein Blick schweifte durch den niedrigen Raum, mit der holzvertäfelten Decke und den vielen kleinen Tischchen und Hockern. Er erkannte Raphaels blonden Haarschopf an einem der Tische hinter dem sich ein riesiges Bücherregal auftürmte. Aus Neugierde blätterte er manchmal in einem der verstaubten Werke. Zufrieden registrierte Lyle, wie die Menschen ihm Platz machte und er dankte der Waffe an seinem Rücken für den offensichtlichen Respekt, den sie einflösste.
„Hey.“ Raphael sah ihn strahlend an und Lyle reagierte mit einem genervten Augenrollen. Er kam sich vor wie ein Vater, dessen Kind seit Stunden auf ihn gewartet hatte.
„Beschaff mir einen Stuhl, ich hol mir ein Bier.“ Sein Mitbewohner nickte grinsend und Lyle drehte sich in Richtung Theke. Kurz beugte er sich zu Raphael hinunter, legte das Schwert auf den Tisch und wollte wissen:
„Und das findest du gut?“
„Hä?“
„Na das?“ Lyle machte eine Bewegung, die den Raum beschrieb. Enge, Menschen, schmutzige Tische und der Geruch von Alkohol.
„Klar.“
„Klar…“ Wieso fragte er auch.

Kopfschüttelnd machte sich Lyle auf den Weg und verzog das Gesicht bei jeder unfreiwilligen Berührung mit anderen Menschen. Er reihte sich in die Schlange an der Theke ein und kämpfte seine Ungeduld nieder. Vor ihm stand ein Riese, so dass der Versuch einen Blick auf die Karte zu erhaschen recht aussichtslos war. Lyle sah sich prüfend um. Die Mischung aus Männlein und Weiblein wirkte erstaunlich ausgeglichen. Viele der Frauen kokettierten mit kurzen Kleidchen und rot geschminkten Lippen, die Männer glotzen und sabberten. Eigentlich wie immer, hatte er etwas anderes erwartet? Schräg vor ihm stand eine junge Frau mit naturroter Lockenmähne, die nicht nur seine Aufmerksamkeit erregte. Obwohl er sie nur von hinten sehen konnte, ging von ihr eine besondere Ausstrahlung aus, auch wenn Lyle es nicht in Worte fassen konnte, es war viel mehr ein Gefühl. Der vollbärtige Mann, der hinter ihr stand schien das ähnlich zu sehen, allerdings reagierte er völlig unpassend. Lyle beobachtete mit aufkeimender Wut, wie sich der Mann immer näher an die junge Frau drängte und sich ein breites Grinsen auf seinen Lippen abzeichnete. Er schien sich zu amüsieren. Unter der dünnen Strickjacke der jungen Frau konnte er die angespannten Muskeln sehen, sie schien kurz davor zu stehen dem Arschloch eine zu knallen. Nun, verdient hätte er es. Er überlegte noch ob er eingreifen sollte, da war zwischen den beiden Körpern plötzlich keine Luft mehr, Hautkontakt. Sie fuhr herum, Lyle sah fasziniert zu, wie die Lockenmähne in der Luft wirbelte und ihre Hand zielsicher die Wange des Mannes traf. Dieser taumelte mit einem überraschten Laut zurück und presste seine Hand auf die Stelle in seinem Gesicht, an der sich ein roter Abdruck abzeichnete. Lyle lächelte schadenfroh, wurde aber fast sofort wieder ernst, als er die Wut in den Augen des imposant wirkenden Mannes wahrnahm.

Die Menschen, die um die Szenerie herum standen, wichen etwas zurück, Spannung lag in der Luft, aber niemand machte Anstalten einzugreifen. Lyle gab seinen Platz in der Schlange mit leisem Bedauern auf und schob sich zwischen den Typen und dem roten Lockenkopf, ehe die Situation vollends eskalieren konnte. Im ersten Moment erntete er Verblüffung von beiden Seiten. Während Lyle der jungen Frau ein beruhigendes Lächeln zuwarf, schnaubte der Mann gereizt auf.

„Ich denke das reicht.“ Lyle sah ihm fest in die Augen. Aus der Verblüffung wurde blanke Wut, gemischt mit geringfügiger Verwirrung. Dennoch war es der Mann, der den Blick als Erstes senkte. Lyle nahm sich die Zeit ihn genauer zu betrachten. Er wirkte im ersten Moment dick, aber dieser Eindruck täuschte. Viel eher hatte er es hier mit einem gut gebauten, aber sehr kräftigen Gegner zu tun, den er nicht unterschätzen sollte. Der etwas unstete Blick und das schwere Schnaufen machten Lyle klar, dass hier das ein oder andere Bier bereits geflossen war.
„Verschwinde, Junge.“ Die Stimme war ein schweres Poltern und hatte die Macht Menschen einzuschüchtern. Lyle vermutete es, denn er erkannte die Irritation, als er einfach gar nicht reagierte und ihn nur weiter unverwandt anstarrte.
„Bist du taub, du sollst verschwinden.“
„Und wenn nicht?“ Lyle zog provozierend eine Augenbraue in die Höhe und spürte, wie er langsam wütend wurde. Er hatte schlicht und ergreifend ein Bier bestellen wollen und sicherlich nicht vorgehabt eine Schlägerei oder dergleichen vom Zaun zu brechen. Aber irgendetwas schien er auszustrahlen, dass er schlechte Situationen nahezu anzog wie das Licht die Motten. Der Mann kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, was wohl bedrohlich wirken sollte. Lyle lächelte kühl und verschränkte die Hände vor der Brust.
„Du willst also Ärger Bürschchen?“ Tatsächlich wirkte selbst Lyle klein und zerbrechlich neben dem imposanten Mann. Die Betonung lag auf wirkte. Jemand zupfte an seinem T-Shirt und als Lyle den Kopf wandte, sah er direkt in das sommersprossige Gesicht der jungen Frau, die er so ritterlich verteidigte. Katzengrüne Augen sahen ihn stechend an und fast hatte er das Gefühl in sein eigenes Gesicht zu blicken. Er wusste zu gut um seinen Blick und diese Frau schien ihn ebenfalls zu beherrschen. Allerdings verstand Lyle nicht, weswegen sie ihn so musterte und nicht den widerlichen Typen hinter ihm.
„Danke, ich denke den Rest schaff ich auch alleine.“ Sie lächelte dünn und wandte sich dem bärtigen Mann mit dem roten Handabdruck auf der Wange zu.
„Ich will keinen Ärger, also lassen sie mich einfach in Ruhe.“ Lyle nahm den intensiven Geruch von Alkohol wahr, als sich der Mann vorbeugte und die junge Frau anstierte. Dass er immer noch zwischen den beiden stand, schien ihn nicht zu interessieren. Kurzerhand trat Lyle zur Seite. Er hatte keine Lust diesem Mann näher als nötig zu kommen. Eben dieser blinzelte und grabschte dann nach den roten Locken. Lyle knirschte mit den Zähnen und ging erneut dazwischen, dieses Mal allerdings nicht mehr kompromissbereit. Mit einer wütenden Bewegung packte er seinerseits in den braunen Haarschopf des Mannes und zerrte ihn mit roher Gewalt weg von seinem Opfer und gegen eine der Säulen, die die Kneipe so charakteristisch machten. Es gab einen dumpfen Aufprall und sein Gegner grunzte schmerzhaft. Na hoffentlich hatte das auch wirklich weh getan. Lyle verzog abfällig die Lippen, als sich der Bärtige mühsam aufrichtete und ihn aus wütend funkelnden Augen fixierte.
„Du, du kleiner Bastard.“ Natürlich… jetzt war er der Böse, dabei hatte er nur ein Bier bestellen wollen und es nicht auf fremde Frauen abgesehen gehabt.

Tumult brach aus, Menschen wichen weiter zurück. Mit leiser Erleichterung registrierte Lyle, dass eine Frau neben dem roten Lockenkopf stand und einen Arm um ihre Schulter gelegt hatte. Das Katzengrün schien sich allerdings derartig auf ihn fokussiert zu haben, dass es Lyle schwer fiel sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Und so traf ihn der Schlag ziemlich derb an der Schläfe. Im ersten Moment sah er buchstäblich Sterne, dann wurde er in die Realität zurück geschmissen. Schmerz breitete sich in seiner linken Gesichtshälfte aus und er spürte warmes Blut seine Wange hinab laufen. Na prima. Einen Kampf mit wild gewordenen Kabeln überstand er schadlos, aber in einer Kneipenrauferei ging er unter. Das war peinlich. Lyle schüttelte den Kopf und versuchte den Schmerz zu ignorieren. Stattdessen konzentrierte er sich auf den bärtigen Mann, der jetzt zufrieden grinste und auffordernd die Faust in seine Hand klatschen ließ.
„Ich geb dir noch eine letzte Chance Bürschchen. Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen.“ Dummerweise ging es ihn spätestens jetzt etwas an. Ungestraft ließ er sich ganz bestimmt nicht schlagen. Lyle sah den Typen abschätzend an. In nüchternem Zustand wäre er vermutlich ein ernstzunehmender Gegner, aber in betrunkenem Zustand wirkte er eher, wie ein zu groß geratenes Kind. Die Bewegungen waren unkoordiniert und langsam. Aber Wut war gefährlich und eben diese zeichnete sich deutlich in dem bärtigen Gesicht ab.
„Nun, ich würde vorschlagen sie verziehen sich möglichst schnell aus dieser Lokalität und im Gegenzug breche ich ihnen nicht jeden Knochen einzeln.“ Gut, dass klang nicht sehr bescheiden, aber Lyle hatte keine Lust mehr sich den Abend zu versauen. Der Mann riss nur ungläubig die Augen auf, ein Stuhl scharte und er konnte Raphael Stimme über die Menge hinweg hören.
„Lyle?“ Es klang alarmiert, er schüttelte den Kopf und winkte zu seinem Mitbewohner hinüber.
„Besorg mir ein Bier, ich hab noch zu tun.“ Raphael lachte und rief ein fröhliches:
„Viel Spaß“, über die Menschen hinweg. Den würde er sicherlich haben.
„Du machst dich wohl lustig über mich, hä!“ Die Stimme des Mannes zitterte vor Zorn, Lyle hob den Kopf und sah ihn an.
„Nein.“ Er lächelte dünn und griff ohne Warnung an.

Mit einer geschmeidigen Bewegung fegte er um seinen Gegner herum, ergriff dessen Arm und nutzte seinen eigenen Schwung um den Mann über seine Schulter und in eine Tischgruppe fallen zu lassen. Es schepperte laut und erschrockene Rufe waren zu hören. Kurz registrierte Lyle, dass einer seiner Kollegen zu dem Barkeeper getreten war und ihm vermutlich gerade erklärte, dass die Regierungseinheit schon längst da war. Lyle konzentrierte sich wieder auf den Mann, der sich stöhnend aufrichtete und ihn mit einem Blick, der fast an Mordlust grenzte musterte. Ein spöttisches Lächeln konnte er sich einfach nicht verkneifen, als er den Angreifer heran stürzen ließ und ihm dann ein Bein stellte. Erneut landete der arme Kerl an einer Säule und Lyle entschloss sich nicht länger zu spielen. Er wartete bis der Mann wieder auf den Beinen war und er seine Aufmerksamkeit hatte und versuchte ein versöhnliches Lächeln aufzusetzen.
„Gehen sie doch einfach nach Hause und schlafen ihren Rausch aus.“ Für einen Moment schien sein Gegner tatsächlich darüber nachzudenken, dann gewann die Wut wohl wieder Oberhand und Lyle beendete die Prügelei mit einem gezielten Schlag gegen seine Schläfe. Die Augen des Mannes verdrehten sich paradox und dann sackte er vor Lyle in die Knie. Nachdenklich sah er auf ihn hinab und er spürte ein leises Bedauern. Wieso musste es eigentlich immer so weit kommen? Der Barkeeper und ein Kellner drängten sich an Lyle vorbei und hievten den Mann mit einiger Mühe zur Türe. Nun vielleicht würde er heute ja doch noch zu seinem Bier kommen. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge und dieses Mal wichen sie ihm alle aus. Na, es hatte seine Vorteile sich in menschenüberfüllten Kneipen zu prügeln.

„Warte.“ Als er sich widerwillig umdrehte und die junge Frau erkannte, seufzte er leise.
„Bist du in Ordnung?“ Sie sah ihn besorgt an und Lyle runzelte die Stirn.
„Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass ich so schwächlich wirke.“ Sie verzog die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln, aber ihre Augen blieben ernst. Sehr irritierende Augen, sie hatten wirklich etwas von einer Katze und wirkten irgendwie… alt.
„Du bist verletzt.“ Verletzt? Lyle tastete kurz nach seiner Schläfe und betrachtete das Blut an seinen Fingerspitzen.
„Ein Kratzer.“ Er lächelte müde und wandte sich um und lief mit schnellen Schritten zu dem Tisch an dem Raphael saß, der ihm gnädigerweise einen Stuhl und ein Bier organisiert hatte.
„Danke.“ Er nahm einen Schluck von dem kühlen Getränk.
„Lebt er noch der arme Kerl?“ Raphael klopfte ihm lachend auf die Schulter und Lyle grinste breit.
„Er wird durchkommen.“
„Na da bin ich aber beruhigt. Nicht dass du unserem Image schadest, dann müsstest du dir nämlich einen anderen Tisch suchen.“
„Gott bewahre.“
„Was war denn los?“
„Das übliche.“ Lyle runzelte die Stirn, als er die junge Frau sah, die den Tisch ansteuerte.
„Hübsches Ding, Geschmack hast du, dass muss man dir lassen.“ Verärgert sah Lyle seinen Mitbewohner an.
„Darum ging es nicht.“
„Na was nicht ist, kann ja noch werden, Alter.“
„Nenn mich nicht so.“ Warnend funkelte er seinen besten Freund an.

„Darf ich?“ Beide sahen sie hoch, zu der jungen Frau, die Anstalten machte sich auf den freien gewordenen Stuhl neben Lyle zu setzen. Ehe dieser etwas erwidern konnte, nickte Raphael begeistert.
„Aber gerne, setz dich.“ Lyle warf ihm einen tödlichen Blick zu, aber Raphael grinste nur breit und beugte sich etwas vor, um besser mit ihr sprechen zu können.
„Alles in Ordnung bei dir?“ Raphael hatte eine beneidenswerte Art mit Menschen völlig locker ins Gespräch zu kommen. Die junge Frau fixierte allerdings nicht seinen besten Freund, sondern ihn mit ihren merkwürdigen Augen, schien kurz über die Frage nachzudenken und nickte dann.
„Ich denke schon. Ich, ich wollte mich nur kurz bedanken.“ Das Wort Danke wollte nicht so leicht über ihre Lippen kommen und Lyle spürte einen Hauch von Sympathie in sich aufsteigen.
„Schon gut.“ Er winkte ab.
„Nicht jeder hätte das getan.“
„Du kannst von Glück sagen, dass du an Lyle, den Retter der Hilflosen, geraten bist. Er treibt sich zwar manchmal an merkwürdigen Orten rum, aber im Prinzip ist er immer zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle.“ Beizeiten sollte er mal ein ernstes Wort mit Raphael reden. Die junge Frau warf einen verunsicherten Blick zwischen ihm und Raphael hin und her.
„Ich bin übrigens Mai.“ Ehe er etwas erwidern konnte, hatte erneut Raphael das Wort ergriffen und Lyle begriff, dass sein Freund ebenfalls schon etwas über den Durst getrunken haben musste. So dumm war er normalerweise nicht.
„Dein Retter hier heißt Lyle und ich bin Raphael, so was wie sein bester Freund.“
„Aha.“ Irrte er sich, oder entdeckte er da ein belustigtes Funkeln in ihren Augen? Sie schwiegen eine Weile und Lyle begnügte sich damit ein Schluck von seinem Bier zu trinken.
„Ich verstehe, ich störe.“ Raphael machte ein zerknirschtes Gesicht und auf Lyles verständnislosen Blick fügte er feixend hinzu.
„Ich möchte dem jungen Liebesglück natürlich nicht im Wege stehen, also wenn ich euch alleine lassen soll, dann sagt es mir.“ Raphael wollte ihm kumpelhaft auf die Schulter klopfen, aber Lyle hatte genug von seinen Witzen und war einen Sekundenbruchteil schneller als Raphael und verdrehte ihm den Arm so, dass der andere aufschrie.
„Du bist ein Idiot, Raphael.“ Der Angesprochene brachte ein schmerzerfülltes Ächzen zustande und Lyle ließ ihn unsanft los. Ohne sich noch einmal umzudrehen, griff er nach dem Schwert und verließ die Kneipe. Er wollte nach Hause und seine Ruhe.

„Ähm.“
„Was?“ Gereizt fuhr er herum und prallte zurück, als er Mai erkannte.
„Ich, ich wollte nur fragen, ob ich vielleicht ein Stückchen mitkommen könnte.“
„Mitkommen?“ Das hatte ihm noch gefehlt. Die kühle Abendluft umfing ihn und er hatte endlich das Gefühl vernünftig atmen zu können. Es war neblig geworden und die Kälte fraß sich fast augenblicklich durch seinen Körper. Eisnebel.
„Also, du sollst wegen mir keinen Umweg machen, aber vielleicht müssen wir ja in die gleiche Richtung. Um ehrlich zu sein hab ich ein bisschen Angst jetzt alleine nach Hause zu gehen, nachdem… Vorfall eben.“ Hoffnungsvoll sah sie ihn an und Lyle seufzte ergeben.
„Wo musst du denn hin?“ Sie deutete zaghaft auf den unbeleuchteten Teil der Stadt. Nur gut, dass das Regierungsgebäude, indem seine und Raphaels Wohnung war, ebenfalls in der Richtung lag.
„Na dann los.“ Lyle klappte den Kragen seiner Lederjacke hoch und marschierte los, die junge Frau schloss sich ihm an.

„Noch mal danke wegen vorhin.“ Sie sah ihm offen ins Gesicht und das gefiel Lyle. Die wenigstens Menschen sahen ihn so unbefangen an. Und es wunderte ihn auch ein bisschen, einen besonders sympathischen Eindruck konnte er nicht gemacht haben, auch wenn er ihr geholfen hatte.
„Schon gut.“
„Ich versteh nicht, wieso mir so was immer wieder passiert.“ Sie strich sich eine vorwitzige Locke aus dem Gesicht und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Lyle musterte sie nachdenklich.
„Menschen eben.“ Mai sah ihn an.
„Das hört sich ziemlich abgeklärt an.“
„Hm.“ Sie schwiegen und Lyle war es recht. Die Beleuchtung nahm immer weiter ab und bald liefen sie fast in vollkommener Dunkelheit über die Holzstege. Der Nebel grub sich durch seine Jacke und Lyle fror bereits jetzt, obwohl sie noch nicht einmal die Hälfte des Weges geschafft hatten. Neben ihm klapperte Mai leise mit den Zähnen und hatte ihren Oberkörper mit den Armen umschlugen, um sich wenigstens etwas zu wärmen.
„Wo genau musst du hin?“ Sie hob kurz den Kopf, er konnte sie nur als Schemen neben sich erkennen.
„Zu den Häusern bei dem neuen Steg.“ Lyle nickte, er hatte es sich schon gedacht. Irgendwo in seinen Erinnerungen meinte er sie schon einmal gesehen zu haben. Vermutlich beim Arbeiten, wobei er nicht besonders auf andere Menschen achtete. Sie gab auf einmal einen erschrocken Laut von sich und Lyle konnte gerade noch rechtzeitig zu packen, bevor sie auf das Teerfeld hinab gestolpert wäre.
„Scheiße.“ Mai klammerte sich zitternd an ihn und Lyle spürte eine ungewohnte Wärme durch seinen Körper schießen. Es war lange her, dass er einem Menschen so nahe gekommen war.
„Jetzt muss ich mich schon wieder bedanken.“ Mai löste sich von ihm, blieb aber so nah neben ihm stehen, dass sich ihre Körper immer noch berührten.
„Schon gut. Du solltest nachts nicht unterwegs sein, wenn du den Weg nicht kennst.“
„Aber du kennst ihn.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
„Ich hab ihn größtenteils gebaut.“
„Dann bist du einer von den Bauarbeitern, die gerade an dem neuen Stück arbeiten?“
„Nein.“
„Nein?“
„Ich baue zwar auch, bin aber vor allem für die Sicherheit der Männer zuständig.“
„Dann bist du bei der Regierungseinheit?“
„Ja.“
„Oh.“ Sie schaute ihn an, er spürte es mehr, als dass er es in der Dunkelheit sah.
„Dann hätte ich mir gar nicht solche Sorgen machen müssen.“
„Sorgen?“
„Na wegen der Prügelei.“ Es hatte zwar seine Vorteile unterschätzt zu werden, aber Lyle mochte es nicht.
„Nein.“

Sie schwiegen wieder eine Weile. Der Nebel hinterließ kleine Tröpfchen aus eisiger Kälte in seinem Gesicht und Lyle griff noch etwas schneller aus.
„Du sprichst nicht besonders gerne, oder?“
„Nein.“ Er meinte sie nicken zu sehen, war sich aber nicht sicher.
„Schade eigentlich.“ Verwundert runzelte er die Stirn.
„Wieso?“
„Du bist interessant.“ Sollte er das als Kompliment auffassen?
„Hm.“ Sie lachte leise.
„Vielleicht macht dich aber deine Schweigsamkeit noch interessanter“, überlegte sie laut und Lyle konnte ihren Blick auf sich spüren, als würde sie ihn berühren.
„Sehr beruhigend“, meinte er lakonisch und dirigierte sie behutsam wieder in die Mitte des Steges. Auf einen Kampf mit einem Teerfeld hatte er wirklich keine Lust mehr heute. Er konnte die schwachen Lichter der Polizeistation sehen und atmete innerlich auf.
„Du und dein Freund, geht ihr immer so miteinander um?“
„Manchmal.“
„Das sah ganz schön brutal aus.“ Sie sagte es zögernd und er konnte spüren, dass sie angespannt war. Hatte sie Angst vor ihm?
„Er ist ein Idiot.“
„Ein armer Idiot.“
„Sein Pech.“
„Du bist ganz schön hart.“
„Schon möglich.“ Das Leben war hart. Aber das musste er eigentlich niemandem mehr erklären, seit der schrecklichen Katastrophe, die sie alle heimgesucht hatte.
„Aber du hast einen weichen Kern.“
„Tatsächlich?“ Die Vorstellung gefiel ihm nicht und der Verlauf ihres Gespräches verwirrte ihn.
„Natürlich, sonst hättest du mich nicht verteidigt, dabei kannten wir uns noch nicht mal.“
„Das war selbstverständlich.“
„Nicht für jeden, du warst der Einzige, schon vergessen?“
„Dann hattest du ja Glück, dass ich da war.“
„Allerdings.“

Sie drehte sich zu ihm um, so dass Lyle stehen bleiben musste. Er konnte Mai erkennen, wie sie vor ihm stand, Dampfwölkchen schwebten von ihrem Mund in die Luft, aber in ihren Augen lag ein Funkeln, das ihn gefangen hielt. Von dem imposanten Regierungsturm drang schummriges Licht zu ihnen auf den Steg.
„Danke für die Wegbegleitung.“ Sie lächelte, ihre Hand legte sich zu Lyles Erstaunen auf seine vermutlich mittlerweile angeschwollene Wange. Kälte grub sich noch tiefer, aber in ihrem Blick lag eine Wärme, die er so noch nie gesehen hatte.
„Gute Nacht, Lyle.“ Sie sprach seinen Namen merkwürdig weich aus, dann löste sie den Kontakt zwischen ihnen. Ihr Rock umspielte ihre Gestalt, als sie sich umdrehte und dann in den Nebelschwaden verschwand, wie ein Geist. Lyle blieb perplex zurück und berührte vorsichtig seine Wange.
 
HA! Erster! ^^

Aaaaaaaaalso, dann wollen wir mal.

Erst einmal muss ich sagen, dass ich persönlich ein großer Fan von postapokalyptischen Settings bin, wenn diese einigermaßen gut umgesetzt sind. In deinem Fall sehe ich bis jetzt nur positive Punkte, was mich sehr, sehr freut. Die Hintergrundgeschichte dieser Welt ist mysteriös und du spielst von Beginn an mit vielen verdeckten Karten, die gerade soviel Preis geben, um sich selbst ein paar wage Vorstellungen um das ganze Drumherum zu machen. Wirkliche Details gibts noch nicht, was an dieser Stelle eine tolle Atmosphäre aufbaut. Ich bin und bleibe gespannt, wie sich die Welt entwickelt, die du hier präsentierst. Vor allem, welchen technologischen Standpunkt diese besitzt. In meinem Hinterkopf habe ich mir schon 1-2 Dinge notiert, die ich bei Gelegenheit noch aufgreifen möchte, sofern diese Frage mal einigermaßen beantwortbar ist.
Sonst gibts noch nicht viel über den Inhalt zu sagen an diesem Punkt. Der bisherige, kleine Peak in das Storygeflecht deckt eine ziemliche Basic-Plotlinie ab. Boy meets girl and saves her. Sonst ist noch kaum etwas passiert. Aus diesem Grund würde ich sagen - den Punkt besprechen wir in einiger Zeit nochmal, wenn die Story weiter ist. ^^

Ab zu den Charakteren... und auch an diesem Punkt kann ich im Moment kaum etwas sagen. Lyle, Raphael und Mai wirken auf den ersten Blick wie bekannte Stereotypen. Der stoische, einsilbrige Held, der gesprächige, sanguinische beste Freund als Gegenstück und Mai, die praktisch mitten drinnen steht. Eine typische Aufteilung in Überich (Lyle), Ich (Mai) und Es (Raphael) eben. ^^ Ein guter Anfang, der aber regelrecht darauf wartet, ein wenig mehr ins Detail gehen zu können. Kurz gesagt: So far - so good. Bin gespannt, was du noch daraus machst. ^^

Bleibt also nur noch die Sache mit dem Handwerk, sprich Stil und Fehler. Aber hey, machen wir uns nichts vor - du kannst schreiben. Sehr gut sogar. Daran hat sich glücklicherweise nichts geändert. Insofern kann ich wohl nur deine Fähigkeiten abermals loben. Ich mag die Art und Weise, wie du Sätze formst und Atmosphäre aufbaust. Kann man nicht oft genug sagen. ^^

Ah, aber vielleicht noch ein kleiner Denkanstoß an dieser Stelle, der eigentlich nur mit der Länge des Teils zu tun hat. Mir ist schon klar, dass du natürlich praktisch keine gute Stelle hattest, um im eventuell zu splitten, aber 4k+ Wörter sind für einen einzelnen Teil vielleicht etwas arg viel. Natürlich - persönlicher Geschmack, aber ich kann nur sagen, dass ich zum Beispiel diese Geschichte zwei Mal schon angefangen hatte, nur um nach einem oder zwei Absätzen festzustellen, dass mir in dem Moment die Zeit fehlte, alles in einen Rutsch zu lesen, worauf ich es auf gerade eben verschoben habe. Eine derartige Länge ist eben eher was für den Abend und die gröbere Freizeit, als für Zwischendurch... Wollte ich nur kurz anmerken, ohne eine Form der Wertung. :)

Tja... what else is there to say?
Nicht viel, außer: Weitermachen!

lg
-Kay
 
So weiter gehts :)

Erstmal vielen dank MajinKay für deinen Kommentar.
Du nimmst in wenigen Worten alles auseinander (positiv gemeint), ich war erstmal baff *g* Ich schreibe sehr gefühlsmäßig und es war für mich gut, das aus deiner Sicht und so klar formuliert zu sehen.

Ich habe so einen schrecklichen Hang ganz in die Klischeekiste zu fallen, bitte gib mir bescheid, wenn dir das zuviel werden sollte. Wie gesagt stecke ich irgendwie so in der Story drin, dass mir genau dieser Blick von oben fehlt. Und deine Worte rattern jetzt schon die ganze Zeit durch meinen Kopf und ich bekomm Zweifel. Aber auch das ist gut und bringt mich weiter.

Und du hast völlig recht mit der Kapitellänge... ich hab es jetzt reduziert ;)



In diesem Sinne, die erste Hälfte von Kapitel 2

Kapitel 2

Er schlug die Augen auf und war wach. Und das aus einem Grund, der ihn im ersten Moment fast panisch werden ließ. Jemand war hier, hier in diesem Raum. Lyle, der mit dem Gesicht zu seiner kahlen Wand lag, bemühte sich weiterhin regelmäßig und tief zu atmen und den Anflug von Panik zu unterdrücken. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte diese Art Aufzuwachen einfach nur Schmerz und Angst bedeutet. Lyle biss sich auf die Lippe und riss sich gewaltsam zusammen. Er versuchte sich auf das zu konzentrieren, was er hören und riechen konnte, lauschte den fremden Atemzügen und erkannte erleichtert einen ihm durchaus bekannten Geruch. Raphaels Parfüm. Aber was zum Henker tat sein Mitbewohner mitten in der Nacht, es war stockdunkel, in seinem Zimmer?! Kurz überlegte er Raphael einfach zu fragen, was ihm einfiel sich hier hinein zu schleichen, aber so leicht wollte er es ihm nicht machen. Stattdessen versuchte er die Richtung zu bestimmen, aus der er Raphaels Atemzüge hören konnte. Er schätzte ihn auf ein paar Meter entfernt von seinem Bett, der würde sich noch wundern.

So unauffällig wie möglich spannte Lyle seine Muskeln an, fuhr dann in die Höhe und stieß sich mit den Beinen von der Matratze ab. Er konnte einen dunklen Schemen erkenne, auf den er zuflog und landete dann wuchtig auf dem Mitbewohner. Es gab ein gewaltiges Krachen und Raphael schrie erschrocken auf. Sie lagen in den Überresten von Lyles einzigem Stuhl und sein bester Freund schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft.
Zielobjekt erledigt, er grinste zufrieden.

„Bist du wahnsinnig?!“
„Ich?“ Lyle schnaubte leise und machte keine Anstalten von seinem Mitbewohner runter zu gehen, dem hoffentlich die Luft knapp wurde. So ein bisschen Strafe musste sein.
„Wer schleicht sich denn in mein Zimmer?“
„Ich hab mich nicht geschlichen. Könntest du bitte von mir runter gehen, du bist schwer.“
„Pff.“
„Lyle, bitte.“ Es klang schon etwas dringlicher und Lyle erbarmte sich, stand auf und schaltete seine Nachttischlampe an. Schummriges Licht erfüllte sein spärlich möbliertes Zimmer und er konnte Raphaels Gesichtsausdruck erkennen, der ihn verunsicherte. Sein bester Freund saß, noch etwas schwer atmend, auf dem Boden und wirkte überraschend nachdenklich und ernst.
„Was soll das?“ Auffordernd musterte er seinen Mitbewohner, der sich stöhnend ein Stuhlbein unter dem Rücken hervor zog und es anstarrte.
„Woher wusstest du, wo ich bin?“ Es klang verstört, Lyle verzog abfällig die Lippen.
„Ich habe eine gewisse Ausbildung genossen und du ihm Übrigen auch.“
„Stimmt.“
„Ich will wissen, was das sollte Raphael.“
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Hast du aber.“ Raphael machte ein zerknirschtes Gesicht.
„Eigentlich wollte ich mich entschuldigen.“ Entschuldigen? Indem er sich auf einen Stuhl in sein Zimmer setzte und ihn anstarrte? Lyles Gedanken mussten sich überdeutlich auf seinem Gesicht abzeichnen, denn sein Mitbewohner grinste schief.
„Es tut mir wirklich leid.“
„Was ist los, Raphael?“
„Ich, ich weiß auch nicht. Ich mach mir Sorgen um dich. Normalerweise prügelst du dich nicht gleich mit fremden Männern, da gehört sonst ein bisschen mehr Provokation dazu, bevor du austickst und deine komischen Aufträge. Lyle, irgendetwas stimmt doch nicht.“
„Es geht mir gut.“ Und ausgetickt war er nicht… das hätte anders ausgesehen.
„Wieso redest du nicht mit mir darüber?“
„Worüber.“
„Über dich, über das was dich beschäftigt.“
„Du spinnst doch.“
„Ach ja?“
„Ja verdammt, es ist mitten in der Nacht!“ Lyle knirschte gereizt mit den Zähnen und verspürte schon wieder das Bedürfnis sich auf Raphael zu stürzen.
„Das wäre mir fast entgangen, aber jetzt wo du es sagst.“
„Du willst dich wirklich mit mir anlegen?“
„Wenn du meinst, ob ich dich reizen möchte, damit ich von dir mehr als nur einen Dreiwortsatz zu hören bekomme, dann ja. Lyle ich bin dein Freund, wann verstehst du das endlich?“
„Verschwinde.“ Er hatte genug, genug von dieser Diskussion, genug von den Dingen, die er nicht hören wollte.
„Du sollst dich verpissen Raphael, ich will schlafen.“ Sein Mitbewohner sah ihn für eine schier endlose Minute schweigend und irgendwie resigniert an, dann erhob er sich abrupt.
„Wie du willst.“ Er bekam einen Anflug von schlechtem Gewissen.
„Lass uns morgen reden, in Ruhe.“
„Natürlich, du weißt ja wo du mich findest.“

Raphael verließ sein Zimmer, nicht ohne die Türe wuchtig ins Schloss zu knallen, so dass Lyle Angst hatte nicht nur einen Stuhl, sondern gleich auch eine Türe weniger zu besitzen. Seufzend ließ er sich auf das Bett zurückfallen und schloss die Augen. Er hatte es gewusst, schon die ganze Zeit über befürchtet, dass Raphael irgendwann der Kragen platzen musste. Jetzt war es geschehen. Das Problem war nur, dass er keine Ahnung hatte wie er damit umgehen sollte.

Der Morgen war zäh in sein Bewusstsein gedrungen. Nach einem schweigsamen Frühstück mit Raphael hatte er sich entschlossen Hannes zu besuchen und ihn um Rat zu fragen oder eher sich einen Tritt in den Hintern einzufangen. Aber vielleicht war genau das nötig. Mit schnellen Schritten lief Lyle über die Holzstege und kontrollierte dabei ganz automatisch, ob alles in Ordnung war, oder ob es Stellen gab die reparaturbedürftig waren.

Sein Elternhaus lag in der noch recht gut erhaltenen Innenstadt, unweit von dem großen Kirchplatz. Hier herrschte so etwas wie normale Zivilisation und die meisten Menschen, die das Unglück überlebt hatten lebten hier. Seine Eltern hatten schier unverschämtes Glück gehabt und bewohnten eines der wenigen, noch fast völlig intakten Gebäude in der Herrenstraße. Die Häuser drum herum waren teilweise eingestürzt und wurden oft nur im Erdgeschoss bewohnt. Lyle kramte in seiner Hosentasche nach dem Schlüsselbund und öffnete dann die Türe, die vertraut knarrte.

Die Luft die ihm entgegenschlug war muffig und roch nach Zigarettenrauch. Er rümpfte die Nase und stieß mit dem Fuß einen Turnschuh von Manuel zur Seite. Trotz der Volljährigkeit hatte die Selbstständigkeit seines Bruders nicht wirklich zugenommen.
„Hallo!“ Seine Stimme verhallte in dem schmalen Flur und Lyle schritt hindurch und dann die Wendeltreppe nach oben in die erste Etage, die am Meisten bewohnt wurde. In ihm machte sich dieses ungute Gefühl breit, dass schon so vertraut war, wenn er das Haus betreten hatte. Wahrscheinlich würde es nie verschwinden. Er erreichte den ersten Stock und trat auf die Wohnebene hinaus. In der großzügigen Sofaecke saß sein Vater und fixierte das Fernsehgerät, auch wenn der Bildschirm rabenschwarz war. Als trockener Alkoholiker schien er Beschäftigungsschwierigkeiten zu haben. Lyle verzog abfällig das Gesicht und lauschte auf das Klappern, das aus der Küche kam. Er konnte nichts dagegen tun, aber er fühlte sich schon jetzt deplaziert, fehl am Platz und einfach… falsch.

Sein Vater schien aus unerfindlichen Gründen plötzlich Notiz von ihm zu nehmen und fixierte ihn aus denselben grau-blauen Augen, die er auch hatte. Gar nicht gut, wenn man ein etwas angespanntes Verhältnis zu seinem Erzeuger hatte und jeden Tag beim Blick in den Spiegel daran erinnert wurde.
„Noch am Leben?“ In dem kantigen Gesicht seines Vater konnte er keine Regung erkennen, aber er hörte sehr wohl den Spott in seiner Stimme.
„Wie du siehst.“ In den Augen war pure Ausdruckslosigkeit, nur um die Mundwinkel zuckte es gefährlich als er durch die Wohnung brüllte:
„Hannah, dein Sohn ist da.“ Natürlich, sie waren auch gar nicht miteinander verwandt. Idiot. Lyle knirschte mit den Zähnen und versuchte so erfolglos wie und je den Blick gleichgültig zu erwidern. Er spürte die Wut, eine ihm sehr vertraute Wut. Während er noch damit beschäftigt war seinen Vater zu taxieren, konnte er schlurfende Geräusche auf dem alten Dielenboden hören. Das Bein seiner Mutter war bei dem großen Erdbeben fast zerquetscht worden und bis heute war es nicht richtig geheilt.

„Lyle.“ Na immerhin jemand schien sich über ihn zu freuen. Ein abfälliges Schnauben war von Gustav zu hören, vermutlich wegen der Freude in der Stimme seiner Mutter.
„Schön, dass du hier bist.“ Sie umarmte ihn und Lyle versuchte sich so schnell wie möglich dem behüteten Griff zu entziehen. Wenn er etwas hasste, dann war es körperliche Nähe, zumindest seit zwei Jahren.
„Schon gut.“ Er lächelte halbherzig und sah sich suchend nach seinem Großvater um, der allerdings nirgends zu sehen war. Normalerweise saß er in dem großen Ohrensessel und las in einem seiner unzähligen Bücher.
„Ist Opa da?“ Die Enttäuschung auf dem Gesicht seiner Mutter ignorierte er.
„Oben in seinem Zimmer.“ Ihr Ton klang kühler, nicht mehr so warm und herzlich wie eben. Lyle war es egal, zumindest versuchte er sich das einzureden. Jahrelang hatte er es hier ausgehalten, jetzt musste er keine gute Miene mehr zum bösen Spiel machen. Sollten sie ihren Scheiß alleine regeln, er wollte nichts mehr damit zu tun haben. Seine Gedanken schienen sich wohl etwas zu deutlich auf seinem Gesicht abzuzeichnen, denn sie schlug die Hände schluchzend vor ihr Gesicht und verschwand wieder in der Küche. Auch daran hatte er sich gewöhnt, es war ihre Art mit all dem umzugehen. Was sie nicht erwarten konnte war, dass er sie tröstete.

„Prima, Lyle.“ Sein Vater klatschte spöttisch Beifall und zog an einer Zigarette, dann wandte er sich dem Fernseher zu. Nun was hatte er erwartet? Einen Kaffeeklatsch mit frischem Kuchen und der ganzen Familie an einem Tisch? Wohl kaum...
„Schon mal darüber nachgedacht, wer die Ursache für ihre Heulerei sein könnte?“ Er sagte es in einem gefährlich herablassenden Ton und wusste, dass das Eis dünn war, auf dem er sich bewegte. Tatsächlich zuckte es in dem Gesicht seines Vaters.
„Überleg dir genau was du sagst, Lyle.“
„Sonst was? Verprügelst du mich dann?“ Beiläufig registrierte er, dass das Schluchzen aufgehört hatte. Gustav warf ihm einen warnenden Blick zu, aber Lyle hatte keine Angst vor ihm. Das Blatt hatte sich gewendet und jetzt war er in einer eindeutig besseren Position.
„Eine Tracht Prügel würde dir ganz gut tun, glaube ich.“
„Versuch’s doch, Papa.“ Das letzte Wort troff förmlich vor Hohn und Gustav war schneller auf den Beinen, als Lyle vermutet hatte. Nicht dass ihm das irgendwas nützen würde.
„Du kleiner, mieser Bastard.“ Zu seiner Überraschung machte sein Vater tatsächlich Anstalten ihm eine zu knallen, doch ehe er reagieren konnte, sauste etwas hart und unerbittlich in seine Kniekehlen. Mit einer Mischung aus Überraschung und Schmerz sackte Lyle zu Boden und entging dadurch dem heftig ausgeführten Schlag. Gustav taumelte von seinem eigenen Schwung mitgerissen einen Schritt auf Lyle zu, dann fing er sich und spuckte auf den Boden.
„Hört auf, alle beide.“ Der tiefe Bariton konnte nur Hannes gehören und als Lyle den Kopf hob, sah er in sehr blitzenden Augen. Kein gutes Zeichen.

„Hallo Lyle.“
„Hi“, ächzte der Angesprochene und versuchte sich mühsam wieder aufzurichten. Hannes streckte ihm seine Hand entgegen, doch er kämpfte sich allein und mit trotzig vorgeschobenen Lippen in die Höhe.
„War das nötig?“ Beiläufig wischte er sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht und sah seinen Großvater vorwurfsvoll an. Dieser nickte nur knapp und mit einem Hauch von Spott.
„Ich will ja nicht, dass du hier noch ein Unglück anrichtest.“
„Ich?!“ Wer hatte hier denn wen schlagen wollen?
„Du weißt was ich meine.“ Hannes packte ihn grob am Arm und zog ihn einfach aus dem Wohnzimmer. Gustav starrte ihm voller Abscheu hinterher und Lyle war nahe daran jeden Funken von Verstand auszuschalten und ihm den Hals umzudrehen. Hannes zog ihn weiter und Lyle wunderte sich einmal mehr, über die Kraft die sein Großvater selbst in seinem hohen Alter noch hatte. Hoffentlich hatte er ein paar seiner Gene geerbt. Sie erreichten das großzügig geschnittene Zimmer, dass Hannes bewohnte und unsanft wurde er auf einen der fragilen Stühle gedrückt. Hannes setzte sich gegenüber von ihm und maß ihn mit einem ernsten und auch ein bisschen ärgerlichen Blick.

„Was sollte das?“
„Nichts.“ Sein Großvater seufzte leise, schien aber zu erkennen, dass er so nicht weiter kam.
„Was ist los?“
„Nichts.“
„Für nichts hast du erschreckend schlechte Laune.“
„Kann schon sein.“ Lyle wandte den Kopf ab und sah aus dem Fenster, hinaus auf die Häuserruinen. Deprimierend, wie immer. Er war wütend, wütend auf sich selbst, wütend auf seinen Erzeuger und wütend auf die ganze Situation.
„Du hast zwei Möglichkeiten Lyle. Entweder du redest mit mir, oder du gehst.“ Hannes erhob sich und trat zu eben dem Fenster, dass Lyle fixierte.
„Ist ja gut.“ Genau deswegen war er ja hier, weil er wusste, dass Hannes ihn dazu bringen konnte über den ganzen Scheiß zu reden, so weit er selber dazu in der Lage war.
„Ich hab Stress mit Raphael.“ Hannes lächelte leicht.
„Habt ihr das nicht ständig.“
„Nicht so.“
„Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, Junge.“ Er setzte sich wieder neben ihn und musterte ihn aus seinem faltigen und so ausdrucksstarken Gesicht.
„Ich hab einen ziemlich gefährlichen Auftrag angenommen und soll nicht darüber sprechen. Aber natürlich bekommt Raphael es mit, wir wohnen zusammen. Und gestern hatten wir irgendwie ein sehr merkwürdiges Gespräch. Ich weiß auch nicht, ich hab das Gefühl, dass er es nicht mehr lange mit mir aushält.“
„Das macht dir Angst?“
„Natürlich.“ Viel mehr, als er es sich selbst eingestehen wollte. Raphael und Hannes waren seine Konstanten in diesem Leben, brach eine davon weg. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.
„Was ist das für ein Auftrag?“
„Ich darf darüber nicht reden, warum auch immer. Ich hab mir das auch nicht ausgesucht, sie haben keinen Freiwilligen gefunden und seit dieser Katastrophe werden wir sowieso für alles Mögliche eingesetzt.“
„Ist es gefährlich?“ Lyle schwieg und Hannes schüttelte den Kopf, so dass sein schlohweißes, langes Haar um seinen Kopf tanzte.
„Verdammt, Junge, und was willst du jetzt tun?“
„Ich weiß es nicht, ich weiß nicht was ich ihm sagen soll.“
„Ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber Lyle, ich weiß wie du mit anderen Menschen sprichst. Was denkst du wie sich Raphael fühlt, wenn du ihm immer nur kurz und knapp antwortest? Wie soll er dich denn verstehen?“ Tja, damit traf er den Nagel auf den Kopf. Lyle schwieg und versuchte in dem vertrauten Gesicht zu lesen. Etwas, was wirklich außergewöhnlich schwierig war. Normalerweise war Lyle gut darin, aber Hannes war wie ein verschlossenes Buch. Das gealterte Gesicht sah ihn zwar aufmerksam an, aber was er wirklich dachte blieb hinter den wasserblauen Augen verborgen.
„Lyle?“
„Hm?“
„Rede doch einfach mit ihm und ich meine wirklich reden.“
„Hm.“ Vermutlich war das wirklich das Beste.
„Ich werde es probieren.“ Hannes nickte zustimmend.
„Lyle?“ Etwas in der Tonlage seines Großvaters warnte ihn.
„Vielleicht solltest du auch anfangen über etwas ganz bestimmtes zu sprechen.“ Er hatte es gewusst. Er ballte die Hände zu Fäusten und presste die Kiefer so fest aufeinander, dass seine Wangenknochen hervortraten. Hannes zwang ihn mit sanfter Gewalt ihn anzusehen.
„Meinst du nicht, es wäre langsam an der Zeit.“ An der Zeit...
„Nein.“
„Lyle, ich weiß nicht was damals geschehen ist, aber.“
„Ich muss gehen.“


Bonne nuit
wölfin
 
Also lass mich gleich zu Beginn was absolut klarstellen: Die Klischeekiste ist keine schlechte Sache. Nur muss man eben verstehen, was und wieviel man aus ihr rauskramen kann. Lass mich es am Besten so erklären:

Die Geschichte von einem Jungen und einem Mädchen, die zusammen sein wollen, aber ihre Familien sind dagegen, ist nicht nur der Stoff von zahlreichen Soap-Operas, sondern war auch schon zu Shakespears Zeiten ein alter Hut. Dennoch ist dies eine Idee, ein Archebild, das uns noch immer packen und interessieren kann. Viel verbreitete Klischees sind aus gutem Gruns viel verbreitet - weil sie sehr oft genau das auf den Punkt bringen, was die leserschaft einfach lesen will. Deswegen finde ich nicht, man sollte Klischees von vorneweg meiden, ganz im Gegenteil sogar. Sofern man es nicht übertreibt, kann man tolle Geschichten auf ihnen aufbauen. Und selbst wenn man es mal übertreibt, hat man stets die Möglichkeit mit etwas augenzwinkernden Ironie die ganze Situation aufzulösen um damit der Story wieder etwas mehr Schwung zu verleihen. ^^
Also ja keine Zweifel, hörst du? Du machst deine Sache bis jetzt sehr gut. :)

Gute Überleitung zum aktuellen Teil ^^

Hm, ja, über die Story selbst lernen wir im Moment nicht sonderlich viel, dafür aber so einiges über Protagonisten Lyle. Das du an der Stelle ein wenig genauer auf den Charakter eingehst und uns auch seine Familie näher vorstellst, gefällt mir wirklich sehr gut. Vor allem, da er eine tatsächliche Familie inklusive allem drumherum hat. Schön, das du diesen Weg gewählt hast, denn ich bin mir sicher, die Interaktion mit Eltern und Großvater kann sicher sehr viel positives in die Geschichte hineinbringen. :)
Lyles Großvater hat mir im aktuellen Teil übrigens am besten gefallen. Eine sehr direkte Ader, verknüpft mit der Milde, die man irgendwie mit dem Alter erwartet. er scheint mir auch der aktivste der bisher vorgestellten Familienmitglieder zu sein - Vater und Mutter präsentieren sich im Moment zumindest noch in sehr passiven Rollen. Mal sehen, wo das noch hinführt.
Die Unterhaltung zwischen Lyle und seinem Erzeuger fand ich durchaus sehr passend, vor allem da unser Hauptcharakter in all seinen Gehabe und seinen Gedanken an dieser stelle unendlich jünger und unüberlegter wirkt, als sonst. Eine tatsächlich magische Gabe, die Eltern besitzen - sie können einen während eines Streites schnell wieder 16 Jahre alt werden lassen. Oder jünger. ^^
Alles in Allem also sehr überzeugend.

Mir sind dennoch zwei kleine Dingerchen aufgefallen, über ide ich dennoch meckern, bzw. mit dir sprechen würde. Das ist jetzt Nitpicking, hat mit dem Storyverlauf Nüsse zu tun, aber es sind eben Dinge, die einem auffallen.
1. Raphaels "Parfüm". Ähem ja. Also sagen wir es mal so: Ich kenne praktisch keinen Jungen, der sein Deo, sein Rasierwasser oder sein (schlimmstenfalls) Eau de Cologne als "Parfüm" bezeichnen würde. Zumindest nicht im normalen Sprachgebrauch. Es sein denn, der Junge ist... ähh... sehr feminin. Wenn du verstehst... ;)
2. Die Namen. Gustav, Hannes, Hannah, Lyle. Ergo: Skandinavisch; Deutsch (ursprünglich aber hebräisch); Hebräisch; Englisch. Sehr multikulturell. Wobei man aber dazusagen müsste, dass die ersten drei super im mitteldeutschen Sprachraum zu finden wäre, der Name des Protagonisten aber eher weniger. Zufall? ;) :)
Wie schon gesagt: Nitpicking. Dementsprechend bitte ignorieren. *gg*

Tjoa. Und dann würde ich normalerweise noch ein, zwei Worte über Fehler und so verlieren wollen. Hmm... Ich lass dich einfach entscheiden, an der Stelle: Eitweder bekommst du nach jedem Teil eine Kopie meiner ersten Aussage in dem Thread, oder wir einigen uns einfach darauf, dass ich denen verwendeten Stil und alles rund um das Handwerk herum einfach klasse finde. ^^ Your Choice.

Insofern... Go on! I'm waiting. *g*


PS: Danke. Die Länge jetzt finde ich klasse. :)
 
Weiter gehts...

@Kay

Danke für deine Antwort!!

Deine Klischeerklärung ist gut :) Gib mir einen Tritt sollte ich es übertreiben *g*

Das mit dem Parfüm... danke für den Hinweis... *seufz* ich musste echt lachen, da hatte ich mein Hirn nicht genug auf "männlich" eingestellt...

Hm der Name von Lyle entstand schon vor ein paar Jahren, da hab ich ein paar Geschichten mit ihm als Hauptchara geschrieben. Aber ich war nie zufrieden. Und als ich die Idee zu der aktuellen Story hatte, hat er da einfach genau reingepasst. Also er war zuerst da *g* und hatte halt den Namen schon. Ansonsten mag ich deutsche Namen. Also ich nehme in Kauf, dass das nicht so zusammen passt :)

Äh wenn du Fehler findest immer her damit.

Ich hoffe der nächste Teil ist nicht zu lang, es gab keine gute Stelle den zu
kappen.

................

Er war zurück in der Wohnung und kochte sich eines der widerlichen Dosengerichte, die zur Hauptnahrung geworden waren. Mailoon saß auf seiner Schulter und war damit beschäftigt an seinem Ohr herum zu schnäbeln.
„Lass das du verzogener Vogel.“ Lachend drehte er den Kopf zur Seite und setzte das Tier auf dem Küchenstuhl ab. Er wurde mit einem klagenden Krächzen bestraft, als er hörte, wie sich die Wohnungstüre öffnete.
„Hallo.“ Raphaels Stimme klang zu Lyles Erleichterung erstaunlich fröhlich.
„Hi.“ In figurbetonter Jeans und weißem Hemd kam sein Mitbewohner in die Küche, ein derartig breites Grinsen im Gesicht, dass Lyle sofort deuten konnte.
„Du hattest Sex.“
„Oh ja.“ Das Grinsen wurde noch breiter und eine Spur anzüglich. Er strubbelte sich durch die strohblonden Haare und ließ sich dann auf dem freien Stuhl nieder. Auf dem anderen saß Mailoon, der warnend in seine Richtung fauchte.
„Bekomm ich was ab?“ Fragend deutete Raphael auf den dampfenden Topf und Lyle nickte.
„Sicher, ich wollte sowieso mit dir reden.“
„Aha.“ Skeptisch zog der andere eine Augenbraue in die Höhe. Tja, wer hatte gesagt, dass das einfach werden würde? Innerlich seufzend, stellte Lyle zwei Teller auf den Tisch und dann den Topf mit dem Fertignudelgemisch.
„Hm, lecker.“ Raphael verzog gequält das Gesicht und griff dann umso herzhafter zu. Sex machte anscheinend hungrig.
„Du solltest das auch mal wieder machen, Lyle?“ Verwirrt runzelte er die Stirn.
„Was?“
„Na Sex haben, diese ganze Welt einfach mal vergessen.“
„Hm.“
„Nichts hm, was ist denn mit der Süßen von neulich?“
„Mai?“
„Genau, die war doch echt heiß.“ Lyle bemerkte zu seiner eigenen Überraschung, dass es sich angenehm anfühlte an die junge Frau zu denken. Aber sicher anders angenehm, als es sich für seinen besten Freund anfühlen würde.
„Raphael.“
„War nur so ne Idee.“ Sein bester Freund zuckte mit den Schultern.
„Können wir über etwas anderes reden?“
„Und worüber?“
„Ich, wollte dir etwas erklären.“
„Und was?“ Es klang ein bisschen genervt und Lyle begriff, dass er sich wirklich nicht alles aus der Nase ziehen lassen konnte.
„Hör zu Raphael. Ich weiß, dass es nicht leicht mit mir ist, aber ich will auf keinen Fall unsere Freundschaft riskieren. Es tut mir leid, dass ich im Moment so, so anstrengend bin.“
„Im Moment?“ Es klang belustigt und Lyle fuhr sich seufzend durch die dunklen Haare.
„Ist es so schlimm?“
„Sagen wir mal so, man gewöhnt sich dran.“
„Tut mir leid.“ Zerknirscht starrte er in seine Schüssel.
„Es könnte nicht schaden, wenn du ein bisschen mehr mit mir reden würdest, weißt du.“
„Ja, ich weiß.“
„Gut dann fangen wir gleich damit an.“ Raphael legte seinen Löffel zur Seite und musterte ihn prüfend. Der Ausdruck gefiel ihm gar nicht und Lyle konnte sich schon denken in welche Richtung sich das Gespräch drehen würde. Heute war der Tag der unangenehmen Unterhaltungen.
„Was sind das für Aufträge Lyle?“
„Ich darf es dir nicht sagen, Dienstvorschrift.“ Raphael nickte grimmig und begann wieder zu essen. Verdammt, was konnte er denn dafür?
„Du könntest ja ein paar Hypothesen aufstellen.“ Zögerlich suchte Lyle den Blick seines besten Freundes und las darin eine sachte Überraschung, aber auch Neugier.
„Gut, aber du musst mir einen Tipp geben.“
„Der Job wurde ausgeschrieben, aber es hat sich keiner freiwillig gemeldet.“ Mehr konnte er nicht sagen, aber eigentlich müsste das auch ausreichen. Raphael legte nachdenklich den Kopf zur Seite und musterte ihn konzentriert. Man konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Lyle entschied, dass er keinen Hunger hatte und schob den Teller von sich weg.
„Sie haben neulich einen Verrückten gesucht, der sich um die Kabel kümmern sollte.“ Raphael wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und musterte ihn dann prüfend.
„Aber so lebensmüde wärst nicht mal du.“ Lyle schwieg betreten und Raphael ächzte leise.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst!“
„Ich hab es mir nicht ausgesucht.“
„Wie meinst du das?“
„Es hat sich keiner gemeldet, also haben sich jemanden zu der Drecksarbeit bestimmt und die Wahl fiel auf mich.“ Als würde er sich selber so etwas aussuchen. Natürlich war er für immer für heikle Sachen zu haben, aber so weit ging selbst er nicht. Zumindest nicht freiwillig. Lyle fragte sich ohnehin immer öfter, ob er bei der Regierungseinheit noch richtig war.
„Das können die doch nicht machen.“ Raphael starrte ihn immer noch fassungslos an und schüttelte den Kopf.
„Haben sie aber.“
„Das heißt im Klartext du kümmerst dich um die Kabel, bevor die Bauarbeiter die Holzstege bauen? Das heißt Lyle, nur dass wir uns richtig verstehen, dass du dann auch teilweise über die Teerfelder musst, weil da ja logischerweise noch keine Wege sind?“
„Ja.“
„Das ist verrückt.“
„Aber machbar.“
„Verdammt Lyle, wieso hast du nichts gesagt?“
„Weil ich es nicht durfte.“
„Das versteh ich nicht.“ Raphael zog eine Augenbraue in die Höhe und schüttelte schon wieder den Kopf.
„Ich auch nicht, aber so wurde es mir mitgeteilt. Vielleicht ist das einfach nur eine extrem witzige Idee von unserem Vorgesetzten gewesen.“
„Markus?“
„Hm.“
„Wieso sollte er dir verbieten darüber zu reden?“
„Weil es Spaß macht mir das Leben schwer zu machen“, antwortete Lyle bitter und verzog bei dem Gedanken an Markus das Gesicht. Zuzutrauen wäre es ihm.
„Und was willst du jetzt machen?“ Verständnislos blinzelte Lyle seinen besten Freund an.
„Was soll ich machen, Raphael?“
„Du könntest dich weigern.“ Darüber hatte er auch schon nachgedacht, nur war er noch zu keinem Ergebnis gekommen. Er war sich ziemlich sicher, dass er diesen Job gut ausführte und dadurch sicherlich einige Menschenleben schützen konnte.
„Ich weiß, ich bin auch am Überlegen.“
„Verstehe.“
„Können wir uns wieder vertragen?“ Die Frage zu stellen kostete ihn wirklich allen Stolz, er kam sich ein bisschen vor wie ein kleiner Junge. Als es um Raphaels Mundwinkel auch noch gefährlich zuckte musste er sich wirklich zusammen reißen.
„Wenn du so nett fragst, wer kann da noch widerstehen?“
„Pass bloß auf.“ Lyle hob drohend die Faust und streckte seinem Mitbewohner die Zunge raus.
„Na dann lass uns arbeiten gehen, es gilt einen Weg zu bauen.“ Mit diesen Worten stand Raphael auf, machte einen großzügigen Bogen um Mailoon und griff nach seiner Jacke.
„Kommst du?“
„Gleich.“ Lyle streckte den Arm aus und der Turmfalke flog mit einem Flügelschlag auf seinen Arm.

Die Bauarbeiten waren schon im vollen Gange, als sie ankamen. Lyle schlüpfte aus der schwarzen Lederjacke und blinzelte in die Sonne. Man konnte spüren, dass der Sommer kam, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie sich das Klima in dieser Jahreszeit zeigen würde. Denn Eisregen und Nebel waren genauso vorhanden, wie sommerliche Temperaturen um die 25 Grad. Prüfend warf er einen Blick auf den halb fertigen Brettersteg. Er sollte zu einer frei stehenden Häusergruppe führen, die noch sehr gut erhalten war und so ein guter Wohnort für obdachlose Menschen sein würde. Dennoch konnten die Arbeiten heute nicht fertig gestellt werden, denn hinter dem Haus gab es eine Ansammlung von Kabeln, mit denen sich Lyle erst noch befassen musste.

„Ich schau mir das mal an.“ Lyle machte sich auf den Weg über die Bretter und kontrollierte vor allem die Verbindungsstellen.
„Gute Arbeit“, meinte er lobend zu einem der Bauarbeiter.
„Danke, wir könnten heute fertig werden.“ Lyle schüttelte entschieden den Kopf.
„Nein, es bleibt dabei, ihr baut nicht weiter, als bis zehn Meter vor das Haus.“
„Aber“, der Mann, der nicht wesentlich älter als er selber sein konnte, deutete motiviert auf den Steg, „wir sind wirklich gut in der Zeit.“
„Darum geht es nicht. Es hat etwas mit eurer Sicherheit zu tun.“
„Oh.“ Lyle lächelte kühl und lief bis zu dem Endpunkt des Steges. Es waren wirklich nur noch wenige Meter, die es fertig zu stellen galt. Nachdenklich sah er zu dem Häusern hinüber. Sie würden vor allem die Häusergemeinschaft entlasten, die sich schräg gegenüber befand und die völlig überfüllt war.

Ein wütendes Schimpfen, ließ ihn den Blick zu eben dieser Häusergemeinschaft drehen. Auf der Holzplattform davor stand Raphael und kontrollierte die Bretter, die dort gelagert waren und wandte ebenfalls den Kopf. Ein kleines Mädchen kam aus der Türe geschossen, sie hatte etwas in der Hand und hinter ihr lief ein schimpfender Mann, der nach der Kleinen griff. Sie entwischte ihm und zu Lyles Entsetzen sprang sie von dem Holzsteg direkt auf das Teerfeld, hastete noch ein paar Schritte weiter und blieb dann stehen. Er konnte in dem jungen Gesicht, sie war kaum zehn Jahre alt, plötzliche Erkenntnis und dann Panik sehen. Sie fuhr herum, doch es war zu spät. Lyle konnte fühlen, wie die Masse unter ihm ihr Opfer witterte. Für einen winzigen Augenblick trafen sich ihre Blicke.

Er dachte nicht mehr nach, sprang ebenfalls auf den grauen Teer und sprintete auf das Mädchen zu. Unter ihm begann der Boden zu Leben zu erwachen und Lyle schlug einen verzweifelten Haken. Er konnte Schreie hören, doch er konzentrierte sich ganz und gar auf das Kind, das ihn anstarrte und stumm blieb. Etwas griff nach seinem Fuß, wollte sich darum schlingen und ihn in die Tiefe zerren, aber er riss sich los, erreichte das Mädchen und fixierte die Plattform und damit Raphael. All seine Kraft in die Arme legend, nutze Lyle seinen eigenen Schwung um das Kind durch die Luft und auf den Steg zu schmeißen. Er konnte den Aufprall hören und auch ihren wimmernden Schmerzenslaut. Erneut klammerte sich etwas an seinen Knöchel und als er sich losriss, klang ein sirrender Laut an sein Ohr, den er nur zu gut kannte. Ein dünnes Kabel schlang sich um seinen Arm und riss ihn mit brutaler Gewalt herum. Er schrie auf, versuchte sich dagegen zu wehren, doch es war zu spät. Unfähig sich zu befreien stolperte Lyle über den Boden, wurde weggerissen von der rettenden Plattform und immer weiter auf das Feld hinaus. Ein zweites Kabel schlang sich um seinen Knöchel, er verlor das Gleichgewicht und spürte entsetzt, wie der Boden unter ihm nachgab. Bereit ihn zu verschlingen, wie so viele Menschen vor ihm. Lyle warf sich herum, ein peitschendes Geräusch erklang direkt neben ihm, als ein Kabel dort aufschlug, wo er eben noch gelegen hatte. Fluchend versuchte er sich loszureißen, spürte wie sich die Stränge nur umso fester in seine Haut gruben und begriff, dass er nicht entkommen würde. Ehe er erneut in das plötzlich so weich werdende Teerfeld einsinken konnte, riss ihn ein weiteres Kabel herum und er wurde auf die hintere Wand des Hauses zugezerrt. Irgendwo am Rande seines Bewusstseins meinte er Raphaels Stimme zu hören. Er verlor den Boden unter den Füßen, der Schmerz in seinen Handgelenken nahm groteske Formen an und dann knallte er wuchtig gegen die Rückseite des Hauses. Vor seinen Augen explodierten Sterne und sein Bewusstsein klinkte sich kurzweilig aus.

Dann schnappte er verzweifelt nach Luft. Immer mehr Kabel sirrten um ihn herum und nagelten ihn fest. Sie spannten sich über seinen Oberkörper, seinen Hals bis hinab zu den Beinen und schnitten tief in sein Fleisch. Mit aller Kraft warf er sich gegen die Stränge, doch das Einzige was er erreichte war, dass sie sich noch enger um seinen Körper legten und er warmes Blut über seinen Körper laufen spürte. Scheiße. Er hing sicherlich zwei Meter über dem Boden und Unmengen an Kabeln versuchten ihn zu erwürgen. Das war’s dann wohl.

„Lyle! Lyle, ich bin hier oben.“ Die Stimme kam ihm vage bekannt vor und mühsam verdrehte er den Kopf, so dass er einen Blick über sich erhaschen konnte. Zu seiner Verwunderung erkannte er Mai die sich aus einem der kaputten Fenster lehnte. Ihr Haar leuchtete wie Feuer im Sonnelicht.
„Du musst mir zuhören, okay.“ Zu was anderem war er im Moment auch kaum in der Lage. Was um alles in der Welt tat sie hier und wie war sie in das Haus gekommen? Wollte sie ihm beim Sterben zusehen?
„Du musst dich entspannen, du darfst keine Angst haben.“ Für einen Moment hätte er fast gelacht. Ein bisschen Meditation bevor erwürgt wurde, oder was?
„Wenn du gekommen bist um mich zu verarschen, hast du dir einen denkbar unguten Zeitpunkt dafür ausgesucht.“ Seine Stimme klang erschreckend krächzend, was vermutlich an der wenigen Luft lag, die er bekam. Als wären seine Gedanken offen auf seiner Stirn geschrieben, zog sich das Kabelgeflecht gefährlich zusammen. Er stöhnte vor Schmerzen.
„Ich mein das ernst. Lyle du musst mir vertrauen. Versuch dich zu entspannen, du musst positive Energie ausstrahlen.“ Sie war verrückt, ganz eindeutig. Lyle warf einen Blick nach oben, was ihm tatsächlich kurz ganz die Luft raubte. Zu seiner Verwirrung las er in ihrem Gesicht einen absoluten Ernst über ihre eigenen Worte. Auch wenn er keinen blassen Schimmer hatte, was ihm ein bisschen Entspannung in seiner jetzigen Situation helfen sollte.
„Und wie zum Henker, soll ich das anstellen?“
„Denk an etwas Schönes.“ An etwas schönes... Lyle verzog das Gesicht und versuchte trotzdem einen angemessen schönen Moment aus seiner Erinnerung hervor zu kramen.
„Wahnsinnig, die ist total wahnsinnig.“ Er fluchte leise, spürte das warme Blut, das seinen Körper hinab lief und hörte das rasende Pochen seines Herzens überdeutlich in seiner Brust. Er war kurz davor wirklich in Panik zu geraten und jede weitere ruckartige Bewegung konnte ihn das Leben kosten.
„Lyle bitte, ich weiß es hört sich irre an.“ Allerdings, völlig irre. Außerdem konnte er doch nicht in so einer Situation irgendwelche tollen Erinnerungen heraus kramen.
„Du wirst jetzt sofort an was Schönes denken, du musst deinen Körper entspannen, hast du das verstanden!“ In ihrer Stimme klang nun tatsächlich Wut mit, die Lyle in jeder normalen Situation zum Augen verdrehen gebracht hätte. Frauen waren aber auch wirklich merkwürdig. Allerdings war der Effekt, wenn man an einer Hauswand hing und kurz davor stand von Kabeln gelyncht zu werden, erstaunlich. Angestrengt ratterte er Momente in seinem Kopf hinunter, die schön gewesen waren.
„Lyle!“ Mais Stimme hatte jetzt eine Dringlichkeit, die ihn zu mehr Eile anspornte. Er dachte an Hannes und ihre Gespräche, er dachte an Raphael und seinen Job. Zu seiner Verblüffung bekam er etwas mehr Luft. Lockerten sich da tatsächlich die Kabel? Er dachte an Tarek, an all die Dinge die sie miteinander geteilt hatten und dann stürzten die dunklen Bilder hervor, die Bilder der Qual... Lyle schnappte nach Luft, der Schmerz an seinen Handgelenken verstärkte sich noch einmal, er schrie auf, warf sich gegen die Stränge und erreichte nur noch mehr Schmerz.
„Lyle, hör auf!“ Scheiße, scheiße, scheiße. Er versuchte sich zu beruhigen, versuchte die Bilder zu verscheuchen und wieder an etwas Gutes zu denken. Etwas Gutes, war das denn so schwer? Und plötzlich tauchte das Bild des Falken in seinem Kopf auf. Natürlich. Mailoon war wirklich das Beste was ihm passieren konnte. Als er kurz nach der Katastrophe das Ei gefunden hatte war es ihm wie ein Wunder vorgekommen. Nie würde er den Moment vergessen, als der kleine Turmfalke seinen Kopf aus dem Ei gestreckt hatte. Ein ehrliches Lächeln huschte über seine Lippen und wieder lockerten sich die Kabel.
„Gut so, hör nicht auf Lyle.“ Erneut drehte er den Kopf und sah zu der jungen Frau empor, die sich aus einem der Fenster lehnte. Er versuchte sie beruhigend anzulächeln, als das ganze Kabelgeflecht plötzlich nachgab und Lyle auf dem Teer zwei Meter unter sich aufschlug.

Er gab einen dumpfen Schmerzenslaut von sich und begriff in der gleichen Sekunde, dass er schon wieder in Gefahr war. Tatsächlich ging eine wellenartige Bewegung durch den Boden und Lyle fuhr in die Höhe und stob zurück in die Richtung der Plattform. Hinter ihm schien die Hölle loszubrechen, der Boden riss auf, zuckende Schlacke wollte ihn zurückreißen. Er schlug verzweifelt Haken, flankte über einen Riss im Boden hinweg, stürzte. Für einen Moment schien die Welt stehen zu bleiben, er konnte das Sirren der Kabel hören, spürte das Pulsieren des Bodens wie ein riesiges Lebewesen unter seinem Körper. Die Sonne schien noch immer, jemand rief seinen Namen, während Lyle spürte, wie sein eigenes Blut den Boden unter ihm tränkte. Er wusste, dass er aufstehen musste, weiter rennen, weiter kämpfen, aber er fühlte sich schrecklich müde. Dunkelgrauer, flüssig gewordenen Teer rann über seine Handfläche, kroch höher, bereit ihn zu verschlingen, einzusperren in ein Gefängnis des Todes.
„Steh verdammt noch mal auf Lyle!“ Raphaels Stimme jagte einen kleinen Schauer durch seinen Körper.
„LYLE!“ Der Teer wanderte weiter über seinen Arm, es hatte etwas erstaunlich Friedliches und trotzdem begriff er, dass es jetzt noch nicht so weit war. Er konnte Raphael und all die anderen nicht einfach so zurücklassen. Keuchend sammelte er noch einmal seine Kräfte, stemmte sich in die Höhe, entgegen dem Teer und stolperte weiter. Die Kabel jagten ihm hinter her und Lyle jagte über den Teer und setzte mit letzter Kraft zu einem Sprung, direkt auf den sicheren Brettersteg vor sich an.

Der Aufprall trieb ihm schier die Luft aus den Lungen, er schlitterte noch ein paar Meter weiter und landete dann wuchtig an dem Bretterstapel. Benommen blieb er liegen. Jeder Atemzug brannte in seinem Hals, ganz zu schweigen von dem Schmerz, der in jeder Faser seines Körpers zu toben schien. Jemand riss ihn fast schon grob herum und auf den Rücken und als er die Augen aufschlug, sah er in Raphaels entsetztes Gesicht.
„Kannst du mich hören?“ Für einen Augenblick starrte er seinen Mitbewohner an. Hören? Na wenn das Hören jetzt sein einziges Problem wäre...
„Denkst du ich bin taub geworden?“ Raphael reagierte erst gar nicht, doch dann schnappte er empört nach Luft.
„Du wagst es jetzt noch Witze zu machen. Lyle, ich hab gedacht das war’s.“
„Ich auch.“ Mit einem schiefen Lächeln stemmte sich Lyle in die Höhe und verzog dabei das Gesicht.
„Was ist mit der Kleinen?“
„Sie wird mit dem Schrecken davon kommen, im Gegensatz zu dir. Du brauchst einen Arzt.“
„Sieht so aus.“ Einen der viele Blutkonserven in petto hatte.

Seine Aufmerksamkeit wurde von rotem Haar in der Sonne in Anspruch genommen. Mai trat aus einem der Häuser der Hausgemeinschaft und eilte mit schnellen Schritten auf ihn zu. Es musste wohl eine Kellerverbindung geben. Ohne Raphael zu beachten kniete sie sich neben ihn.
„Wie fühlst du dich?“ Das war wohl der Tag der blöden Fragen. Lyle seufzte resigniert.
„Glänzend, sieht man das nicht.“
„Du brauchst einen Arzt.“ Sie musterte ihn unverhohlen besorgt. Verwirrt sah Lyle von Mai zu Raphael und wieder zurück.
„Habt ihr euch abgesprochen?“ Sein bester Freund murmelte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart und zog ihn dann kraftvoll in die Höhe. Lyle gab einen erstickten Schmerzenlaut von sich und zog seine Hand zurück.
„Sorry.“ Lyle starrte auf sein Handgelenk, um das sich eines der Kabel besonders liebevoll geschlungen hatte und schluckte. Das war echt knapp gewesen. Ein Hoch auf den Schock, den er wohl hatte, ansonsten wäre er vermutlich schon umgekippt.
„Komm ich bring dich zur Krankenstation.“
„Ich helf euch.“ Mai trat neben ihn und legte sanft eine Hand auf seinen Oberarm. Es war wieder diese Wärme, die ihn irritierte. In seinem Kopf tanzte die Panik immer noch Tango mit seinen Schmerzen und alles schien ihm merkwürdig unrealistisch. Ganz besonders Mai, die ihn durch positive Erinnerungen von den Kabeln befreit hatte. Völlig unmöglich, aber warum sonst sollte er noch am Leben sein?
„Na dann los.“ Raphael stützte ihn und mit zusammen gebissenen Zähnen humpelte Lyle die Holzstege entlang.

Der Weg zum Regierungsturm erschien ihm endlos lang, immer wieder mussten sie anhalten und Lyle kämpfte die drohende Ohnmacht verbissen zurück. Kurz vor ihrem Ziel blieb Mai stehen. Fragend suchte Lyle ihren Blick. Allmählich wurde ihm schlecht und die Schmerzen schienen mit jedem Schritt den er tat zuzunehmen. Sein Schock schien immer schneller nachzulassen.
„Danke.“ Er versuchte zu Lächeln, brachte aber nur eine Grimasse zustande. Sie sah ihn mit einem sehr merkwürdigen Blick an. Er las echte Sorge darin, aber es schimmerte auch etwas Nachdenkliches hindurch, was er nicht zuordnen konnte.
„Jetzt sind wir quitt.“ So hatte er es noch nicht betrachtet.
„Sieht so aus.“
„Pass auf dich auf Lyle.“ Sie beugte sich vor und hauchte ihm einen kaum spürbaren Kuss auf die blutig gebissenen Lippen. Dann drehte sie sich um und ging den Weg zurück. Lyle starrte ihr hinterher. So langsam kam er mit seinem Körper nicht mehr zurecht. Die Schmerzen waren gar nicht mehr lustig, aber das Gefühl ihr so nahe zu sein, löste etwas ganz anderes in ihm aus.
„Na, ich hab’s doch gleich gesagt.“
„Was?“
„Sie ist heiß.“ Raphael grinste und zog ihn dann die letzten Meter zu dem Hochhausgebäude. Lyle spürte wie der Boden unter seinen Füßen an Substanz verlor und sich die Schwärze, die er so verbissen zurückgekämpft hatte, nun um ihn schloss.
 
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