stLynx
Chef-Nörgler
Mal was Neues von mir. Euphemistisch könnte man es als Kurzgeschichte bezeichnen (diesmal wirklich, keine 15 Seiten!), aber eigentlich ist es mehr ein Experiment in Sachen Erzählperspektive. Ich hab mich entschlossen, es trotzdem mal hier reinzustellen, große Erwartungen sollte man aber nicht haben, es ist so nebenbei entstanden aus Experimentierfreudigkeit.
Ich habe erst überlegt, alles in einem Teil zu posten, hab jetzt aber doch zwei etwa gleich große Teile draus gemacht. Zumindest soll sich diesmal mal keiner beschweren, meine Teile wären immer zu kurz. Und bitte:
Dies, werte Leser, ist M.
Es soll an dieser Stelle schon aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Rolle spielen, wie M. heißt oder welchem Geschlecht er oder sie angehört (mit Ihrem Einverständnis werde ich von nun an der Einfachheit halber nur die maskuline Form verwenden und auch darüber hinaus von ihm sprechen, als sei er ein Mann). Es soll uns auch nicht interessieren, wie alt M. ist oder welchen Beruf er ausübt. Lassen Sie uns M. kennen lernen, ohne durch derartige Äußerlichkeiten befangen zu sein.
Bitte, kommen Sie! Nicht so schüchtern! Ich weiß, dass M. nichts dagegen hat. Es tut ihm nicht weh, keine Sorge, er wird von unserer Anwesenheit gar nichts merken. Wenn Sie sich nun bitte in Zweierreihen aufstellen wollen…
Gut so. Wenn Sie alle soweit sind, folgen Sie mir... hinein in M.s Innerstes. Begeben Sie sich mit mir auf eine Reise dorthin, wo sonst nur M. selbst Zugang hat, und noch weiter, an Orte, die M. sogar vor sich selbst verschlossen hält. Sie werden M. aus einer Perspektive kennen lernen, die sonst niemandem offen steht - oh, glauben Sie nicht, das würde die Sache einfacher machen! Es wird verwirrend genug werden, da bin ich mir sicher.
Nun, kommen Sie, kommen Sie! Wenn Sie sich noch trauen. Los doch, nicht so schüchtern! Immer mir nach!
Lassen Sie uns mit unserer kleinen Führung an einem Ort beginnen, durch den wir vielleicht schon am meisten über M. lernen können: im Raum der Wünsche. Was? Nein, der ist nicht in Hogwarts, Sie Banause! Wo genau dieser Raum liegt, nun, darüber kann uns der Plan dort drüben Auskunft geben.
Wir befinden uns hier, sehen Sie, noch nahe dem Kopfeingang. Der Raum der Wünsche liegt direkt hier drüben, beim Gehirn. Die Direktion hat kürzlich überlegt, ob er nicht beim Herzen besser platziert wäre, aber Sie wissen ja, wie lange es bei den Bürokraten mit einer Entscheidung dauert.
Das Herz werden wir später besuchen, lassen Sie uns zunächst wie versprochen den Raum der Wünsche aufsuchen. Kommen Sie, treten Sie ein! Nur nicht drängeln, es passen alle herein. Sie dort hinten, schließen Sie bitte die Tür hinter sich? Vielen Dank. Wir wollen nicht, dass andere Besucher mithören, die für diese Führung nicht bezahlt haben.
Wie Sie sicher schon vermutet haben, werden im Raum der Wünsche M.s Wünsche ausgestellt. Hier drüben, gleich als erstes, sehen Sie einen alten, aber gut erhaltenen Kindheitstraum von einem riesigen Swimmingpool im Garten. Ah, aber ich sehe schon, Ihre Aufmerksamkeit gilt bereits dem großen, glänzenden Stück in der Mitte des Raumes. Na schön, beginnen wir also dort.
Was Sie hier sehen, inmitten dieser prunkvollen Scheinwerfer und der Lichtspielerei, ist M.s Lebenstraum. Die beiden kleinen Däumlinge dort sollen Kinder darstellen. Es sind drei Stück, wenn sie genau hinsehen. Interessant ist, dass ihnen kein Geschlecht anzusehen ist. Die meisten Experten interpretieren dies so, dass es für M. keine Rolle spielt, ob er einmal Töchter oder Söhne haben möchte, er weiß nur, dass er sich drei Kinder wünscht. Von welchem Geschlecht, ist ihm sozusagen egal. Ich hoffe mal, es ist ihm nicht ganz so egal, von welcher Mutter… verzeihen Sie, war nur ein Scherz.
Sie sehen die drei Kinder auf einer grünen Wiese, und hinter ihnen gehen zwei männliche und zwei weibliche Beine dicht beieinander. Anscheinend hat M. keine konkreten Vorstellungen von seiner Traumfrau, oder wie auch immer man die Frau nennen soll, die offensichtlich die Mutter seiner Kinder sein soll. Der Fokus des Wünschenden liegt hier ganz klar auf dem Nachwuchs, wie Sie sehen.
Wenn Sie nach rechts schauen möchten, können Sie dort drüben die Wünsche aufgereiht sehen, die man als materiell bezeichnen könnte. Das Haus im Grünen, der Sportwagen, das Heim-Kino-System, und dort das Wasserbett. Sie haben natürlich Recht, wenn Sie sagen, dass das sehr oberflächliche Wünsche sind, aber die muss man jedem Menschen wohl zugestehen.
Vielleicht wundern Sie sich über das leere Podest. Das liegt daran, dass ein Ausstellungsstück fehlt, seit M. sich vor kurzem die HiFi-Anlage geleistet hat, auf die er die letzten Monate gespart hat. Keine Sorge, schon bald wird sie durch einen neuen Wunsch ersetzt werden. Das geschieht alles vollautomatisch, wir müssen uns gar nicht darum kümmern.
Das? Oh ja, das ist tatsächlich ein Feuerwehrauto. Ich gebe zu, es sieht etwas heruntergekommen und verstaubt aus. Es ist ein altes Stück, ein Kindheitstraum, der lange Zeit unbeachtet in einem Archiv stand. Wir haben mehrmals versucht, ihn aufwändig zu restaurieren, aber wir würden riskieren, dass er einfach zerfällt, so instabil und fragil ist er. Dieser Traum ist kaum mehr als eine Erinnerung, die oft schon ins Vergessen absinkt. Das ist sehr bedauerlich, denn mit unseren Kindheitsträumen vergessen wir einen Teil unserer selbst. Unserer Lebensgeschichte.
Leider derzeit nicht zeigen können wir Ihnen einige der kostbarsten Stücke, die Sie vielleicht schon vermissen. Die Wünsche nach Weltfrieden und dem Ende jeder Armut können wir momentan nicht ausstellen, da sie über die Jahre hinweg einfach zu sehr vernachlässigt wurden. Sie werden irgendwo in einer Kammer gelagert und ab und zu herausgeholt, um nachzuweisen, dass es sie noch gibt, aber die meiste Zeit über interessiert sich niemand für sie, weder die Ausstellungsleitung noch die Besucher. All diese Utopien einer besseren Welt sind anscheinend heutzutage kalter Kaffee und locken niemanden mehr hinter dem Ofen hervor, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Nun, ich denke, ich habe Ihnen die wichtigsten Exponate in diesem Raum gezeigt. Gibt es noch offene Fragen? Ja, bitte, Sie da hinten?
Oh, Sie meinen das Stück dort in der äußersten Ecke, das fast etwas versteckt steht? Ja, dazu gibt es durchaus einige interessante Dinge zu erzählen, aber ich hoffe, Sie verzeihen mir, wenn ich mit Rücksicht auf die minderjährigen Teilnehmer unserer kleinen Tour darauf verzichte. Ich kann Ihnen aber bestätigen, dass die Peitsche echt ist.
Wenn es keine weiteren Fragen gibt, würde ich Sie bitten, mir zu unserer nächsten Station zu folgen. Bitte achten Sie unterwegs im Gang auf die Erinnerungen, die an den Wänden aufgehängt sind, wir haben die schönsten und eindrucksvollsten für Sie ausgewählt.
Ich gebe zu, dass unser nächster Ausstellungsraum wenig einladend, ja womöglich gar ein wenig abschreckend wirken mag. Aber… einen Moment bitte, ich schließe gerade die alte Stahltür auf… so. Aber ich versichere Ihnen, das einzige, was sie beim Betreten dieser dunklen, etwas übel riechenden Kammer fürchten müssen, ist die Stufe am Eingang.
Wir warten vielleicht einige Momente, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit und ihre Nasenschleimhäute sich an den moderigen Geruch gewöhnt haben. Natürlich hätten wir Ihnen diesen Bereich von M. lieber in restauriertem Zustand präsentiert, doch damit hätten wir seine Natur verfälscht.
Sie kennen vielleicht den alten Spruch: Wenn man ein Gewissen hat, hat man meist ein schlechtes. Dies hier ist der Beweis dafür. M.s Gewissen enthält keinerlei positive Szenen. Keine Erinnerung daran, als er seinem Nachbarn half, die heruntergefallenen Tüten wieder aufzuheben. Keine Spur von dem Tag, an dem er fünf Überstunden einlegte, damit sein Kollege zur Abschlussfeier seiner Tochter gehen konnte. Was M. im Kleinen geleistet und Gutes bewirkt hat, spielt für ihn keine Rolle, so wie für die meisten von uns. Jedoch jede winzige Peinlichkeit, jedes kleine Unrecht, das er beging… findet sich in diesem Raum.
Also, nachdem ich die Zeit mit diesem kleinen melodramatischen Vortrag überbrückt habe, können Sie vielleicht inzwischen das eine oder andere Exponat erkennen. Als erstes ist hier der Mitschüler, den M. seinerzeit beim Direktor wegen des mitgebrachten Klappmessers angeschwärzt hat. Hier sehen Sie den vergessenen Geburtstag seines Vaters, und dort drüben den Familienausflug, den er seinen Eltern mit seinem unnötigen Wutanfall kaputt gemacht hat.
Für uns als Außenstehende sind das vielleicht beinahe Nichtigkeiten, und warum gerade diese Eindrücke sich derart in den Vordergrund drängen, wird Ihnen womöglich noch rätselhafter erscheinen, wenn wir einige Schritte tiefer in M.s Gewissen vordringen und sehen, welche ungleich schlimmeren, zum Teil sogar kriminellen Verfehlungen uns dort noch erwarten.
Wenn Sie beispielsweise zu Ihrer Linken ins Dunkel spähen, können Sie in den Ferne den kleinen Laden ausmachen, in dem M. in seiner Jugend einmal aus einer Mischung aus Übermut und Imponiergehabe heraus eine CD mitgehen ließ. Und dort, noch viel weiter entfernt, sehen Sie Bruchstücke einer Szene, die M.s Geist selbst nur unvollständig rekonstruieren kann: jene Autofahrt unter Alkoholeinfluss, die seine beste Freundin tötete.
Es gibt kein intimeres Geheimnis als die Schuld, die auf uns lastet. Manchmal müssen wir sie zurückdrängen, um mit ihr leben zu können. Wir wollen uns diesen speziellen Erinnerungen nicht weiter nähern. Sie werden sicher mit mir darin übereinstimmen, dass wir uns zu diesem Bruch der innersten Intimsphäre selbst im Rahmen dieser Tour, die jeden Winkel von M.s Persönlichkeit erforscht, nicht aus reiner Sensationsgier hinreißen lassen sollten. Sie müssen keine weiteren dieser schrecklichen Bilder sehen, um M. zu verstehen. Niemand muss das.
Kommen Sie, kommen Sie bitte. Lassen wir das Gewissen ruhen. Wir haben genug gesehen.
Das war die erste Hälfte, die andere vielleicht später. Falls jemand die Existenz dieser "Geschichte" zur Kenntnis nimmt, kann er mir ja den Doppelpost ersparen *schulterzuck*.