M.

stLynx

Chef-Nörgler

Mal was Neues von mir. Euphemistisch könnte man es als Kurzgeschichte bezeichnen (diesmal wirklich, keine 15 Seiten!), aber eigentlich ist es mehr ein Experiment in Sachen Erzählperspektive. Ich hab mich entschlossen, es trotzdem mal hier reinzustellen, große Erwartungen sollte man aber nicht haben, es ist so nebenbei entstanden aus Experimentierfreudigkeit.

Ich habe erst überlegt, alles in einem Teil zu posten, hab jetzt aber doch zwei etwa gleich große Teile draus gemacht. Zumindest soll sich diesmal mal keiner beschweren, meine Teile wären immer zu kurz. Und bitte:


Dies, werte Leser, ist M.

Es soll an dieser Stelle schon aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Rolle spielen, wie M. heißt oder welchem Geschlecht er oder sie angehört (mit Ihrem Einverständnis werde ich von nun an der Einfachheit halber nur die maskuline Form verwenden und auch darüber hinaus von ihm sprechen, als sei er ein Mann). Es soll uns auch nicht interessieren, wie alt M. ist oder welchen Beruf er ausübt. Lassen Sie uns M. kennen lernen, ohne durch derartige Äußerlichkeiten befangen zu sein.

Bitte, kommen Sie! Nicht so schüchtern! Ich weiß, dass M. nichts dagegen hat. Es tut ihm nicht weh, keine Sorge, er wird von unserer Anwesenheit gar nichts merken. Wenn Sie sich nun bitte in Zweierreihen aufstellen wollen…

Gut so. Wenn Sie alle soweit sind, folgen Sie mir... hinein in M.s Innerstes. Begeben Sie sich mit mir auf eine Reise dorthin, wo sonst nur M. selbst Zugang hat, und noch weiter, an Orte, die M. sogar vor sich selbst verschlossen hält. Sie werden M. aus einer Perspektive kennen lernen, die sonst niemandem offen steht - oh, glauben Sie nicht, das würde die Sache einfacher machen! Es wird verwirrend genug werden, da bin ich mir sicher.

Nun, kommen Sie, kommen Sie! Wenn Sie sich noch trauen. Los doch, nicht so schüchtern! Immer mir nach!



Lassen Sie uns mit unserer kleinen Führung an einem Ort beginnen, durch den wir vielleicht schon am meisten über M. lernen können: im Raum der Wünsche. Was? Nein, der ist nicht in Hogwarts, Sie Banause! Wo genau dieser Raum liegt, nun, darüber kann uns der Plan dort drüben Auskunft geben.

Wir befinden uns hier, sehen Sie, noch nahe dem Kopfeingang. Der Raum der Wünsche liegt direkt hier drüben, beim Gehirn. Die Direktion hat kürzlich überlegt, ob er nicht beim Herzen besser platziert wäre, aber Sie wissen ja, wie lange es bei den Bürokraten mit einer Entscheidung dauert.

Das Herz werden wir später besuchen, lassen Sie uns zunächst wie versprochen den Raum der Wünsche aufsuchen. Kommen Sie, treten Sie ein! Nur nicht drängeln, es passen alle herein. Sie dort hinten, schließen Sie bitte die Tür hinter sich? Vielen Dank. Wir wollen nicht, dass andere Besucher mithören, die für diese Führung nicht bezahlt haben.

Wie Sie sicher schon vermutet haben, werden im Raum der Wünsche M.s Wünsche ausgestellt. Hier drüben, gleich als erstes, sehen Sie einen alten, aber gut erhaltenen Kindheitstraum von einem riesigen Swimmingpool im Garten. Ah, aber ich sehe schon, Ihre Aufmerksamkeit gilt bereits dem großen, glänzenden Stück in der Mitte des Raumes. Na schön, beginnen wir also dort.

Was Sie hier sehen, inmitten dieser prunkvollen Scheinwerfer und der Lichtspielerei, ist M.s Lebenstraum. Die beiden kleinen Däumlinge dort sollen Kinder darstellen. Es sind drei Stück, wenn sie genau hinsehen. Interessant ist, dass ihnen kein Geschlecht anzusehen ist. Die meisten Experten interpretieren dies so, dass es für M. keine Rolle spielt, ob er einmal Töchter oder Söhne haben möchte, er weiß nur, dass er sich drei Kinder wünscht. Von welchem Geschlecht, ist ihm sozusagen egal. Ich hoffe mal, es ist ihm nicht ganz so egal, von welcher Mutter… verzeihen Sie, war nur ein Scherz.

Sie sehen die drei Kinder auf einer grünen Wiese, und hinter ihnen gehen zwei männliche und zwei weibliche Beine dicht beieinander. Anscheinend hat M. keine konkreten Vorstellungen von seiner Traumfrau, oder wie auch immer man die Frau nennen soll, die offensichtlich die Mutter seiner Kinder sein soll. Der Fokus des Wünschenden liegt hier ganz klar auf dem Nachwuchs, wie Sie sehen.

Wenn Sie nach rechts schauen möchten, können Sie dort drüben die Wünsche aufgereiht sehen, die man als materiell bezeichnen könnte. Das Haus im Grünen, der Sportwagen, das Heim-Kino-System, und dort das Wasserbett. Sie haben natürlich Recht, wenn Sie sagen, dass das sehr oberflächliche Wünsche sind, aber die muss man jedem Menschen wohl zugestehen.

Vielleicht wundern Sie sich über das leere Podest. Das liegt daran, dass ein Ausstellungsstück fehlt, seit M. sich vor kurzem die HiFi-Anlage geleistet hat, auf die er die letzten Monate gespart hat. Keine Sorge, schon bald wird sie durch einen neuen Wunsch ersetzt werden. Das geschieht alles vollautomatisch, wir müssen uns gar nicht darum kümmern.

Das? Oh ja, das ist tatsächlich ein Feuerwehrauto. Ich gebe zu, es sieht etwas heruntergekommen und verstaubt aus. Es ist ein altes Stück, ein Kindheitstraum, der lange Zeit unbeachtet in einem Archiv stand. Wir haben mehrmals versucht, ihn aufwändig zu restaurieren, aber wir würden riskieren, dass er einfach zerfällt, so instabil und fragil ist er. Dieser Traum ist kaum mehr als eine Erinnerung, die oft schon ins Vergessen absinkt. Das ist sehr bedauerlich, denn mit unseren Kindheitsträumen vergessen wir einen Teil unserer selbst. Unserer Lebensgeschichte.

Leider derzeit nicht zeigen können wir Ihnen einige der kostbarsten Stücke, die Sie vielleicht schon vermissen. Die Wünsche nach Weltfrieden und dem Ende jeder Armut können wir momentan nicht ausstellen, da sie über die Jahre hinweg einfach zu sehr vernachlässigt wurden. Sie werden irgendwo in einer Kammer gelagert und ab und zu herausgeholt, um nachzuweisen, dass es sie noch gibt, aber die meiste Zeit über interessiert sich niemand für sie, weder die Ausstellungsleitung noch die Besucher. All diese Utopien einer besseren Welt sind anscheinend heutzutage kalter Kaffee und locken niemanden mehr hinter dem Ofen hervor, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Nun, ich denke, ich habe Ihnen die wichtigsten Exponate in diesem Raum gezeigt. Gibt es noch offene Fragen? Ja, bitte, Sie da hinten?

Oh, Sie meinen das Stück dort in der äußersten Ecke, das fast etwas versteckt steht? Ja, dazu gibt es durchaus einige interessante Dinge zu erzählen, aber ich hoffe, Sie verzeihen mir, wenn ich mit Rücksicht auf die minderjährigen Teilnehmer unserer kleinen Tour darauf verzichte. Ich kann Ihnen aber bestätigen, dass die Peitsche echt ist.

Wenn es keine weiteren Fragen gibt, würde ich Sie bitten, mir zu unserer nächsten Station zu folgen. Bitte achten Sie unterwegs im Gang auf die Erinnerungen, die an den Wänden aufgehängt sind, wir haben die schönsten und eindrucksvollsten für Sie ausgewählt.



Ich gebe zu, dass unser nächster Ausstellungsraum wenig einladend, ja womöglich gar ein wenig abschreckend wirken mag. Aber… einen Moment bitte, ich schließe gerade die alte Stahltür auf… so. Aber ich versichere Ihnen, das einzige, was sie beim Betreten dieser dunklen, etwas übel riechenden Kammer fürchten müssen, ist die Stufe am Eingang.

Wir warten vielleicht einige Momente, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit und ihre Nasenschleimhäute sich an den moderigen Geruch gewöhnt haben. Natürlich hätten wir Ihnen diesen Bereich von M. lieber in restauriertem Zustand präsentiert, doch damit hätten wir seine Natur verfälscht.

Sie kennen vielleicht den alten Spruch: Wenn man ein Gewissen hat, hat man meist ein schlechtes. Dies hier ist der Beweis dafür. M.s Gewissen enthält keinerlei positive Szenen. Keine Erinnerung daran, als er seinem Nachbarn half, die heruntergefallenen Tüten wieder aufzuheben. Keine Spur von dem Tag, an dem er fünf Überstunden einlegte, damit sein Kollege zur Abschlussfeier seiner Tochter gehen konnte. Was M. im Kleinen geleistet und Gutes bewirkt hat, spielt für ihn keine Rolle, so wie für die meisten von uns. Jedoch jede winzige Peinlichkeit, jedes kleine Unrecht, das er beging… findet sich in diesem Raum.

Also, nachdem ich die Zeit mit diesem kleinen melodramatischen Vortrag überbrückt habe, können Sie vielleicht inzwischen das eine oder andere Exponat erkennen. Als erstes ist hier der Mitschüler, den M. seinerzeit beim Direktor wegen des mitgebrachten Klappmessers angeschwärzt hat. Hier sehen Sie den vergessenen Geburtstag seines Vaters, und dort drüben den Familienausflug, den er seinen Eltern mit seinem unnötigen Wutanfall kaputt gemacht hat.

Für uns als Außenstehende sind das vielleicht beinahe Nichtigkeiten, und warum gerade diese Eindrücke sich derart in den Vordergrund drängen, wird Ihnen womöglich noch rätselhafter erscheinen, wenn wir einige Schritte tiefer in M.s Gewissen vordringen und sehen, welche ungleich schlimmeren, zum Teil sogar kriminellen Verfehlungen uns dort noch erwarten.

Wenn Sie beispielsweise zu Ihrer Linken ins Dunkel spähen, können Sie in den Ferne den kleinen Laden ausmachen, in dem M. in seiner Jugend einmal aus einer Mischung aus Übermut und Imponiergehabe heraus eine CD mitgehen ließ. Und dort, noch viel weiter entfernt, sehen Sie Bruchstücke einer Szene, die M.s Geist selbst nur unvollständig rekonstruieren kann: jene Autofahrt unter Alkoholeinfluss, die seine beste Freundin tötete.

Es gibt kein intimeres Geheimnis als die Schuld, die auf uns lastet. Manchmal müssen wir sie zurückdrängen, um mit ihr leben zu können. Wir wollen uns diesen speziellen Erinnerungen nicht weiter nähern. Sie werden sicher mit mir darin übereinstimmen, dass wir uns zu diesem Bruch der innersten Intimsphäre selbst im Rahmen dieser Tour, die jeden Winkel von M.s Persönlichkeit erforscht, nicht aus reiner Sensationsgier hinreißen lassen sollten. Sie müssen keine weiteren dieser schrecklichen Bilder sehen, um M. zu verstehen. Niemand muss das.

Kommen Sie, kommen Sie bitte. Lassen wir das Gewissen ruhen. Wir haben genug gesehen.


Das war die erste Hälfte, die andere vielleicht später. Falls jemand die Existenz dieser "Geschichte" zur Kenntnis nimmt, kann er mir ja den Doppelpost ersparen *schulterzuck*.
 
Huhu stLynx,
ich sollte zwar eigentlich ein anderen Post kommentieren, aber ich hab mich von dem hier weg reisen lassen. xD Und da du so mehr oder minder nett darum batest, das dir jemand erspart einen Doppelpost zu machen, kommentier ich das mal. ^^
Ich gestehe das es das erste Werk ist das ich von dir Lese und deswegen nicht sehr genau weis, in welche Richtungen deine Schreibereien sonst gehen, aber das tut auch wenig zur Sache. Denk ich.
Als du ganz zu Anfang von der Erzähler perspektive sprachst, dachte ich erst an etwas anderes. Aber das ist auch mal eine ganz neue Form, die Geschichte zu präsentieren.
Erinnert mich so ein wenig an diese uralte Zeichentrickserie, wo man im inneren des Menschlichen Körpers war. Mir fällt der Name nicht mehr ein. o.O
Aber genug geschwätz, komm wir zum Punkt.

Etwas irritierend fand ich die Tatsache, das du sagst, nicht zu nennen ob er Weiblich oder Männlich ist, du dann später aber davon sprichst das er sich die Mutter seiner Kinder nicht vorstellt. Es kann natürlich sein das sich das wieder darauf bezieht, das du von M. als ein Er sprichst, ohne genau zu sagen das es auch stimmt.
Die Abteilung mit den Wünschen find ich sehr Interessant, jeder Mensch hat da ganz individuelle Träume aber im Grunde sind es doch die, die andere auch haben.
Mich würde trotz allem Interessieren was es mit dem Feuerwehr auto auf sich hat, aber die meisten Jungs wünschen sich ja als Kinder Feuerwehrmann zu werden. Ich schätze mal das es darauf hinaus lief. ^^
Den mitten drin angebrachten Humor find ich Klasse, gerade die Andeutung mit der Peitsche. :rofl:
Aber es ist auch wahr das sich viel zu wenige Menschen heute noch aufrichtig den Weltfrieden wünschen und das niemand mehr Hungern muss, oder an Armut leidet. Für die meisten ist es fast selbstverständlich, so scheint es mir, das es so etwas eben gibt. Aber sie hegen kein großes Interesse daran, solange es nicht sie selbst betrifft.

Und dann zu seinem Gewissen.
Merkwürdig, wenn ich darüber so nachdenke was du schreibst, fällt mir auf, das ich selbst mich auch mehr an die schlechten Dinge erinnere als an die Guten. Warum wir Menschen wohl gerade das in Erinnerung behalten, das wir am liebsten vergessen würden? Oo Wir sind eindeutig Kompliziert..
Aber jeder mensch hat mal was angestellt, sei es jetzt was geklaut oder so.
Gut, das mit der Freundin ist schon ... etwas happig. Das ist echt heftig, das er unter Alkohol einfluss seine beste Freundin umbringt. Aber verständlich das man darauf nicht weiter eingeht, das muss für M. schon allein schwer genug sein das zu verkraften. Da muss man nicht noch weiter drauf herum reiten.

Hab ich jetzt alles kommentiert was ich wollte? Oo Ich denke schon.. Also.. Dann bis zum nächsten mal ^^"
 

Danke an BlackiAngel für das Ersparen des Doppelposts! Und, nebenbei, natürlich auch für den ausführlichen Kommentar ;) (Aber was heißt denn hier "mehr oder minder nett"?? xD)

Die Zeichentrickserie, die du meinst, könnte sowas wie "Es war einmal... das Leben" gewesen sein? Du hast übrigens Recht, dass dieses "wir tun der Einfachheit halber so, als sei M. ein Mann" so gemeint war, dass in Zukunft dann auch von seiner EheFRAU usw. gesprochen wird. Ebenso gut könnte das ja die Frau sein, die Vorstellungen von ihrem EheMANN hat. Ich wollte mich da einfach nicht in so umständliche Satzkonstruktionen verstricken, indem ich beide Geschlechter immer mit durchschleppe.

Und wenn ich Glück habe, interessiert dich (oder womöglich noch jemand anders) dann auch der Rest der "Geschichte": ^^


Meine Damen und Herren: das Herz!

Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes beim Herzstück unserer kleinen Ausstellung angelangt. Sie werden sehen, dass sich das ein wenig schwierige Eintreten gelohnt hat; jene Abschottung, die wir soeben überwunden haben, bildet sich im Laufe der Jahre in unterschiedlich starker Ausprägung um die meisten Herzen herum. M. bildet hier keine Ausnahme. Die Gesteinsschichten überwuchern das Herz geradezu, manchmal bekommen sie durch außergewöhnliche Ereignisse aber Risse wie jenen, durch den wir Zugang erlangt haben.

Hier, im Inneren von M.s Herzen, leben - ich kann es nicht anders bezeichnen - einige ganz besonders bedeutsame Exponate. Gleich hier vorne, wo das Rot am hellsten leuchtet, sehen Sie M.s Mutter und daneben die einzige Frau, die er in seinem Leben wirklich innig geliebt hat. Ein Stück dahinter die beste Freundin - Sie erinnern sich vielleicht an sie aus M.s Gewissen - und seinen Bruder. Es folgen noch, zugegebenermaßen ein wenig blasser bereits, M.s Ex-Ehefrau und der beste Freund aus Kindertagen. Sie vermissen vielleicht M.s Vater - nun… das tat er ebenfalls.

Aber folgen Sie mir ruhig ein Stück weiter. Auch bestimmte Ereignisse leben in M.s Herzen fort: Zu Ihrer Rechten sehen Sie die ersten zwei Minuten der ersten Begegnung mit seiner Frau, dort - ein Klischee, ich weiß, aber dennoch - seinen ersten Kuss, und weiter hinten - oh, das wird Ihnen gefallen! Eine jener romantischen und etwas kitschigen Kindheitserinnerungen: die Mutter, die sich liebevoll um ihn kümmert, nachdem er beim Spielen ausgerutscht und vom Steg in den See gefallen ist. Das Handtuch, mit dem sie ihn abtrocknete, war furchtbar kratzig, aber daran erinnert er sich erstaunlicherweise nicht mehr.

Psst! Lauschen Sie mal!

Hören Sie das? Das ist die Stimme von M.s Vater, oder vielmehr ihr Echo. Sie wiederholt immer nur dieselben Worte: „Ich bin stolz auf dich.“ Das hat er genau einmal in seinem Leben gesagt, anlässlich des ersten Schulzeugnisses, das M. mit nach Hause brachte. Diese Worte haben M. so viel bedeutet, dass er sie seitdem in seinem Herzen bewegt. Es hallen noch andere Stimmen durch das Herz, wenn Sie genau hinhören. Die seiner Frau, die seines Chefs - da geht es um die überfällige Beförderung - und sogar die eines Verkehrspolizisten, warum auch immer. Selbst unsere Experten sind sich nicht einig, wieso die Worte „Gute Fahrt“ für M. solch eine Bedeutung besessen haben mögen - womöglich war es die Situation, in der sie fielen, die wir nicht kennen -, was uns wieder einmal zeigt, dass Bedeutsamkeit etwas rein Subjektives ist, das von anderen oft nur schwer nachvollzogen werden kann.

Sehen Sie sich ruhig alles an, und horchen Sie noch einmal. Das Herz eines Menschen ist etwas Einzigartiges, und normalerweise bekommt man nicht so leicht Zutritt dazu. Also nutzen Sie die Chance!

Ja, Sie dort? Was möchten Sie wissen? Oh, da haben Sie Recht. Es ist tatsächlich das, wonach es aussieht, so unschön das ist. Leider sind wir nicht imstande, diese Wunde im Herzen wieder zu schließen. Das kann niemand. Ich muss Sie bitten, die Stelle nicht zu berühren, die Gegend dort ist nun sehr empfindlich. Wir wissen nicht, welches Erlebnis genau diese Verletzung von M.s Herz verursacht hat. Es gibt einige weitere, kleinere Sprünge und Brüche, aber diese Wunde ist mit Abstand die schwerwiegendste. Das Besondere an diesem Teil der Ausstellung ist, dass auch der Raum selbst ein wertvolles Ausstellungsstück ist, vielleicht sogar das kostbarste von allen.

Verweilen wir noch bisschen, schauen Sie sich in Ruhe um. Bitte aber keine Fotos, Souvenirs können Sie am Ausgang erwerben.



Nun, da sich unsere Tour allmählich ihrem Ende nähert, möchte ich Ihnen eine Frage stellen: Wie gut kennen Sie M. bereits?

Egal, was Sie nun antworten wollen, Sie kennen ihn nicht. Denn man kann einen Menschen erst dann tatsächlich kennen, wenn man seine Ängste kennt. Seien Sie beruhigt, für Sie wird das, was Sie gleich sehen werden, bei weitem nicht so schrecklich sein wie für M. Dies ist ein Rundgang, keine Geisterbahn. Also lassen Sie sich von dem ersten Eindruck nicht einschüchtern!

Es erfordert immer ein wenig Überwindung, diese Grenze zu überschreiten und hinüberzutreten in das, was ich ganz neutral als M.s Innerstes bezeichnen möchte - wenn Ihre religiöse oder philosophische Einstellung das zulässt, können Sie dies gerne seine Seele nennen. Es fühlt sich an, als wandere man in die dunkelste aller Nächte herein, in der jeder Gedanke Realität wird. Die Dunkelheit hat etwas Greifbares an diesem Ort, aber nichts Mystisches geht hier vor, und Sie werden auch keine leuchtenden, geisterhaften Energiewolken herumschweben sehen oder etwas anderes, das einer Seele ähnelt, wie auch immer Sie sie sich vorstellen mögen. Was sie stattdessen sehen und vielleicht sogar fühlen werden, sind die fundamentalsten Ängste, welche die Grundlage für M.s Persönlichkeit bilden.

Ich weiß, was Sie sagen wollen. Ist das nicht ein etwas pessimistisches Weltbild? Dass ausgerechnet unsere Furcht die Basis unseres Wesens ist? Was ist mit unseren Hoffnungen, unseren Idealbildern, macht nicht viel mehr unseren Charakter aus? Nun, das ist sicherlich wahr. Fakt ist jedoch, dass alles, was wir sind, auf dem beruht, was wir am meisten fürchten. Angefangen beim uralten Selbsterhaltungstrieb, der Angst vor dem Tod, über unsere Angst, etwas zu tun, was wir in unserer Erziehung als „falsch“ kennen gelernt haben, bis zu unseren Alltagsängsten, die wir so weit unter Kontrolle haben, dass niemand sonst sie je bemerken wird, und die dennoch unsere Schritte lenken.

Aber genug der schnöden Worte. Folgen Sie mir bitte!

Gleich hier vorne befindet sich die erste Angst. Sie ist so alt, dass sie bereits ein wenig ergraut ist und dennoch eine der intensivsten bleibt. Es ist, bitte lachen Sie nicht, die Angst vor Katzen. Die Szene, die sie dort sehen, stammt aus M.s Leben im Alter von fünf Jahren, und die Katze mit den scharfen Krallen, die sich vom Ast aus auf ihn herabfallen lässt, gehört den Nachbarn und heißt Tayo. Ängste, die in unserer Kindheit entstehen, sind zumeist die stärksten von allen.

Als Nächstes haben wir hier jene Angst, die M. in seinem Leben am meisten im Wege stand. Man kann Katzen aus dem Weg gehen, ohne dass das Leben um vieles ärmer wäre - gut, ich weiß, darüber kann man geteilter Meinung sein… Jedenfalls ist der Verlust weitaus geringer als im Falle der Bindungsangst. Mindestens drei Frauen hat M. ihretwegen zurückgewiesen, und das sind nur jene, derer er sich bewusst ist. Bezeichnend, dass seine Ehe gerade einmal vier Monate gehalten hat.

Kommen Sie ein Stück weiter und bewundern Sie ein ganz besonders schönes Exemplar von Zukunftsangst. Die Angst vor der Zukunft ist an sich weit verbreitet, in jeder zweiten Seele finden Sie sie in mehr oder weniger stark ausgeprägter Form, aber die von M. ist wirklich ein außergewöhnlich kräftiges Stück. Manche Menschen können dies sogar in positive Energie umwandeln, indem sie wegen ihrer Furcht vor dem, was kommen mag, die Gegenwart umso mehr genießen. Ob M. zu dieser Sorte Mensch gehört? Ehrlich gesagt, wir wissen es nicht. Wir können nur ebenso raten wie Sie.

Hier drüben finden Sie eine Sammlung kleinerer Phobien. Platzangst, ein wenig Höhenangst, die Angst vor Haarausfall. Und direkt daneben eine umfangreiche Kollektion der schönsten Alltagssorgen und -befürchtungen, wie ein jeder sie wohl kennt. Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, Angst betrogen zu werden, Angst vor einem plötzlichen Stau, wenn man es eilig hat, und hier, sehr fein gearbeitet, sogar eine Angst vor einem Computerabsturz.

Während Sie sich umschauen, achten Sie bitte auf Bewegungen in der Dunkelheit. Manchmal, sehr selten, zeigen sich hier auch andere Lebewesen, die in der Seele zu Hause sind. Selten hervorkommende Charakterzüge wie Schadenfreude, Leichtsinn, aber auch Großzügigkeit und Mitgefühl.

Es stimmt, dass nicht die Ängste allein die Seele bevölkern. Welch deprimierender Gedanke wäre das! Sie bilden das Grundgerüst, und die meiste Zeit über sind sie die einzigen Bewohner, die sich zeigen. Doch manchmal, fast unerhofft, geben sich andere zu erkennen und beweisen uns, dass wir doch mehr sind als die Summe von Ängsten, Hoffnungen und Erfahrungen. Dass es irgendwo in uns mehr gibt, als man innerhalb eines Lebens zu entdecken vermag.



Wir sind jetzt am Hinterausgang unserer kleinen Ausstellung und damit auch am Ende meiner kleinen Führung angelangt. Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe, Sie haben etwas mitnehmen können (und damit meine ich nicht die Andenken aus unserem Shop).

Gestatten Sie mir, Ihnen einige Fragen mit auf den Weg zu geben.

Wer ist M.? Kennen Sie ihn? Verstehen Sie ihn? Wissen Sie, was ihn beschäftigt? Kennen Sie seine Natur? Sie wissen um seine Träume, um seine Ängste, um einige seiner Erinnerungen und Taten, um all jene Dinge, die M. ausmachen. Inwiefern genügt dieses Wissen, um seine Persönlichkeit zu erkennen? Seinen Charakter?

Denken Sie darüber nach! Nach allem, was Sie erfahren haben: Wer ist M.?

Eine interessante Frage, finden Sie nicht auch? Wert, sich damit zu befassen, sie eine Zeit lang in seinem Geist zu bewegen. Über M. nachzudenken und darüber, was Sie über ihn wissen und wie gut Sie ihn kennen.

Die weitaus spannendere Frage ist aber eine andere: Was, wenn Sie nicht die Gelegenheit zu dieser Führung gehabt hätten, wie bei, sagen wir, allen anderen Menschen auf diesem kleinen Planeten? Wenn Sie M. nur äußerlich kennen gelernt hätten, vielleicht ein paar Worte mit ihm gewechselt, vielleicht ihn bloß im Vorübergehen gesehen hätten?

Wer ist M…? Die Frage, die Sie wirklich beschäftigen sollte, ist: Hätten Sie sich diese Frage jemals gestellt, wenn M. nicht die Person wäre, die Sie auf diese spezielle Weise kennen lernen durften? Wenn M. Ihr Bäcker wäre, die Frau neben Ihnen im Bus, das Kind mit dem Hund auf dem Fußweg gegenüber? Wenn M. ein Mensch wäre, dessen Inneres Sie niemals in diesem Maße kennen lernen werden?

Und von wie vielen dieser Menschen, verehrte Leser, glauben Sie dennoch allzu leicht, sie zu kennen?


So, that's about it. Über jeden Kommentar zu meinem kleinen Experiment bin ich dankbar (und wehe nun sagt noch jemand, ich hätte bloß "mehr oder weniger nett" um einen Kommentar gebeten :P )...
 
Ich war fast ein wenig erschrocken, wie genau du die, nun ja, Realität in M. dargestellt hast. Und man, verdammt, du hast Recht. Es ist wirklich so. Furchtbar wenn man sich überlegt, wie egoistisch man eigentlich ist (siehe Weltfriede und Hungersnot) und wie seine Ängste einen eigentlich kontrollieren...
Ich fand die Idee, diese 'Geschichte' so zu präsentieren wirklich gelungen! :)
 
Wow..., das war mal RICHTIG GUT!! Sehr unterhaltsam und witzig einerseits, und vor allem sehr intelligent und tiefsinnig andererseits... Lässt sich auch hervorragend lesen, und irgendwelche Schwachstellen konnte ich auch nicht erkennen. Wirklich hervorragend...

Eine einzige Sache die mir komisch vorkam: am Ende wird der Leser ja als "Leser" angesprochen. Also logisch, natürlich, aber würde nicht vielleicht "Zuhörer" dennoch konsequenter passen? Eigentlich spricht der Erzähler ja zu den Leuten der Führung?
 

Danke schön, ihr beiden, für den Kommentar und die netten Worte! :) Da bleibt mir ja gar nichts mehr dazu zu sagen, außer vielleicht auf sylvios Frage wegen des "Lesers" einzugehen. Darüber hab ich beim Schreiben auch nachgedacht, wie ich den Leser nun ansprechen soll (er wird ja in der allerersten Zeile der Geschichte auch schon mal mit "Leser" angesprochen)... einerseits hast du Recht, andererseits klingts auch komisch, wenn man am Anfang gleich als erstes mit "werter Zuhörer" angesprochen wird...
Hm, nun ja, vermutlich Geschmackssache, ich bin mir da auch nicht so ganz sicher, was besser ist...
 
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