Kurzgeschichte: Kein Abschied

Kein Abschied

„Wir müssen jetzt weiter!”, drängte ich unruhig und stand auf. Es hatte schon seit einiger Zeit aufgehört zu regnen. Nur noch vereinzelte Tropfen fielen vom schweren, bleigrauen Himmel. Es kam keine Antwort und ich fragte mich gerade warum, als mir die Stille plötzlich bewußt wurde. Es war still, schon seit einiger Zeit hatte ich sie nicht mehr wimmern hören. Selbst der Wind, der die Nacht über unablässig um den Unterschlupf geheult hatte, war verstummt. Es war still geworden, vollkommen still. Totenstill. Und plötzlich faßte eine kalte Hand nach meinem Herzen. Langsam, ganz langsam drehte ich mich um und sah sie an. Sie lag da, noch immer wie vorhin. Wann war vorhin gewesen?, ich wußte es nicht, schon seit langem nicht mehr, aber wie konnte ich mit Gewißheit wissen, welche Zeitspanne ‚seit langem’ genau war? Ich schloß kurz die Augen, atmete ein, öffnete sie wieder und dann trat ich zu ihr, fast widerwillig.
Ihr Körper, so ausgemergelt und zerbrechlich, wie eine Feder im Wind und ihr Gesicht, so bleich und eingefallen... Ihre Haare, das Gesicht wie ein dreckiges Laken umrahmend... Alles war genau wie immer, immer..., nein, es war nicht immer so gewesen... Nein... Bitterkeit kroch meinen Hals hinauf und erschwerte mir das Schlucken. Ihr schaute ihr Gesicht an, nur noch ihr Gesicht. Es war so ruhig und friedlich, fast so schön und rein wie früher... Und das war es, was so anders war.
Die Wärme in meinen Augen nahm zu und mein Blick verschwamm.
Ihre Brust war so ruhig, ihre Lungen so still, so bewegungslos. Nie mehr würden sie sich so voller Qual, aber trotzdem um das zarte Leben kämpfend, daß sich in ihnen barg, heben und senken. Nie mehr würde ihr kleines Herz schlagen, nie mehr würde es das, was Leben verheißt durch ihre Adern pumpen. Nie mehr würde ihr Mund lachen und ihre Augen strahlen. Nie mehr würde ein Wort über ihre nun kalten Lippen kommen, denn sie war tot, tot, tot.
Ich hatte es gewußt, schon seit der Stille, die jetzt ganz laut war. Sie drückte auf meine Ohren und machte mich taub. Und sie lag da, ganz still und friedlich. Sie war so still verschieden. Ohne ein Wort der Klage, oder der Angst, es hatte keinen Abschied gegeben, keinen... Mein Herz war gelähmt, wie kalter Stein, ich spürte die Tränen in meinen Augen, aber sie kamen nicht. Ich spürte den Schrei in meiner Kehle, aber über meine Lippen kam kein einziger Ton. Ich wollte denken, aber in meinem Kopf herrschte Leere. Leere, so tief und so dunkel... Warum spürte ich keinen Schmerz? Keine Wut, Schuld, Trauer, irgendetwas? Ich spürte nichts, nichts, absolut nichts. Wie betäubt. Betäubt von der Erkenntnis, betäubt vom Schmerz. Mein Herz, ich spürte es nicht mehr. Ich spürte nichts mehr. Denn sie war tot, meine Schwester, mein Grund zum Leben, wohl nur noch der einzige, wie ich mit gleichgültiger in Gewißheit mündender Klarheit erkannte, soeben, beinahe beiläufig. So war sie auch gestorben, beiläufig, und ich hatte es nur durch die sich auftuende Stille gemerkt, die laute Stille. Ohrenbetäubend.
Ich starrte mit noch immer tränenlosen Wangen auf sie. So klein, so jung... Meine Lippen zitterten. Ich hatte sie verloren, für immer. Der nächste Gedanke kam, ungefragt, vieles war so ungefragt passiert... Was sollte nun werden? Ich war jetzt allein, vollkommen allein, da war niemand mehr, niemand... Niemand in diesem toten Land. Und dann ging ich los und ließ sie zurück. Einfach so. Meine Beine trugen mich, ganz von allein. Mein Herz und Verstand waren gelähmt, nur die Beine wußten anscheinend noch was zu tun war. Sie trugen mich weit fort, weit fort von meiner lieben, kleinen Schwester. Ich ging und ging. Nie wußte ich wohin, nie wußte ich wie weit. Ich hatte eine Grenze überschritten, wie lange schon? Meine Beine gingen. Mein Herz schien aufgehört haben zu schlagen. Ich ging und ging. Ich wollte nicht mehr denken, nicht mehr fühlen, nur noch gehen.
Irgendwann, ich weiß nicht mehr wann, gaben sie dann nach, meine Beine, selbst sie hatten mich am Ende verlassen. Es war dunkel um mich herum, mußte wohl Nacht sein, aber selbst das war nicht mehr sicher. Nichts war mehr sicher, die Grenzen hatten sich aufgelöst, mit ihr. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so da lag. Aber irgendwann spürte ich die Veränderung. Mühsam setzte ich mich auf und faßte in mein Gesicht. Meine Wangen waren naß. Und sie wurden immer nasser. Ich schmeckte Salz, warmes, salziges Wasser auf meiner Zunge. Ich weinte, wie mir klar wurde, und ich weinte immer mehr.
Das Eis um mein Herz, welches mein Herz so lange gefangengehalten hatte, schmolz mit jeder vergossenen Träne weiter und mit ihm kam der Schmerz. So tief, abgrundtief und himmelzerreißend. Ich setzte mich auf und umklammerte mit überkreuzten Armen meine Schultern und ein leises, befreiendes Wimmern kroch aus meiner Kehle hervor und brach das lange Schweigen. Es war nicht laut, nur ganz leise, ganz leise... Und langsam kehrten in meinen Kopf die Gedanken zurück. Aber sie waren scheu und zurückhaltend. Denn mein Herz füllte alles aus. Es war so voller Schmerz, daß ich unter seiner bitteren Last erbebte. Die Qual machte mich fühlend, sehend, denkend. Ich schloß weinend die Augen, die Trauer war so tief, mein Herz so zerrissen. Es hatte keinen Abschied gegeben... Ich öffnete die Augen und starrte mit verschwommenen Blick gen Horizont. Ein heller Streifen war da, im Osten. Keinen Abschied... Der Streifen wurde heller.

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Bitte kommentieren. :)
 
*flenn*
Obwohl ich nicht genau weiß, warum die kleine Schwester so elend aussah, so abgemagert und vorallem warum sie gestorben ist, konnte ich diese tiefe Trauer richtig gut nachvollziehen. Diese Gedanken von der Hauptperson. Dieses Fliehen und erst später weinen zu können. Oh gott, das hast du echt klasse gemacht !!

Svlg,
Tyra
 
Schön geschrieben, aber leider an der Realität vorbei, ich mein, ich kenne das Gefühl nun wahrlich und wie man reagiert. Ich kann es einfach nicht verstehen, dass man es nicht bemerkt, dass neben einem jemand stirbt oder das man sie einfach da liegen lässt, irgendwohin geht oder sonstiges. Alle Gedanken gelten da der Schwester und die verzweifelte Hoffnung dass sie noch leben könnte, gegen jedes bessere Wissen...

Also, schön geschrieben, aber meiner Meinung nach eben doch starke Fiktion.
 
Ich fands toll... Traurig aber toll... NUja schöner sehr gefühlvoller schreibstil... *schluchz* Das war schön... Dieses Gefühl zwar weinen zu wollen aber nciht zu können... Hach... ich fand sschön egal was Lysander sagt...
 
hm...
es macht nachdenklich...^^
mir stellt sich die frage wie ich reagieren würde...
du hast einen angenehmen schreibstil...du bringst die situation so gut rüber...
z.b. als er von ihr weg ging hätten es stunden sein können bis zu seinem ende oder auch nur minuten! so zeigst du das das alles nicht wichtig ist wie lange es war...es ist auch nicht wichtig warum sie gestorben ist...
das find ich richtig super....
und ja ich muss es auch sagen es ist schön^^
ich hoff es wird noch mehr von dir geben^^

gruss :knuddel:
 
Schön, ich finds gut, möchte auch keine negative Kritik anbringen. Es ist stimmig in sich, toll. Hatte meine Gänsehaut und konnte sehr gut mitfühlen. ^^
 
@ Romani: Danke, das Lob freut mich sehr. ^^

@ knuddel: Danke!! :) Cool,daß dich das nachdenklich gestimmt hat! *freu*

@ Ying&Yang: Auch dir danke! =) Genial, ich habe Gänsehaut mit meinem Geschreibsel ausgelöst! *g*
 
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