#15 | Sicht: Till
Ich wurde immer weiter gezogen. Bald schon befand ich mich im freien Fall, ich verließ den Tunnel und stürzte dem Boden entgegen. Ich sah meinen eigenen Körper am Boden liegen.
Erst winzig klein, dann immer größer und größer.
Ich raste ihm entgegen um schließlich auf ihn aufzuprallen und mich im gleichen Moment mit ihm zu vereinen. Der Moment war zu absurd um wahr zu sein. Ich konnte meinen Körper von innen sehen ich raste von meinen Füßen bis zum Kopf durch meinen Körper hindurch.
Das letzte was ich sah waren zwei Personen die sich von mir wegbewegten. Dann wurde mir schwarz vor Augen.
Kälte. Das erste was ich bemerkte als ich erwachte, war eine absolute und tödliche Kälte. Langsam öffnete ich meine Augen. (Augen? Erst jetzt fiel mir auf, wie lange es her war seit ich das letzt mal welche besessen habe.)
Es dauerte eine knappe Minute bis ich registriert hatte, wo ich mich befand.
Ich lag in einer Waldlichtung. Mein Kopf war auf Moos gebettet und ich war – ich erkannte es jetzt erst als den Grund meines Frierens – nackt. Es war düster. Nur das Licht des Vollmondes behellte die Lichtung.
Ich blieb noch einige Minuten liegen um Kräfte zu sammeln. Dann setzte ich mich auf, besser gesagt ich versuchte es. Denn mein Kopf fing an derartig stark zu schmerzen, dass ich es vorzog mich schnell wieder hinzulegen. Doch ich konnte nicht ewig hier liegen bleiben. Noch ein paar Stunden ohne Kleidung und ich wäre erfroren.
Der nächste Versuch des Aufrichtens verlief auch schon wesentlich besser. Ich hatte zwar wieder starke Kopfschmerzen, doch sie waren erträglich. Wieder wartete ich kurz und stand dann langsam auf.
„Was wohl mit den anderen los ist?“, schoss es mir ruckartig durch den Kopf, „Sie denken wohl, dass ich tot bin und nicht mehr zu ihnen zurückkehre.“
Doch ich musste den Gedanken erst einmal nach hinten verlegen, den momentan hatte ich andere kurzfristigere Probleme. Genauer gesagt eins. Ich musste versuchen irgendwie die Nacht zu überleben.
Ich schaute mich um und entdeckte etwas, was mich unter normalen Umständen höchstens zu einem abfälligen Gedanken über Umweltverschmutzer getrieben hätte. Eine alte, bereits vermoderte Decke. Doch jetzt stürzte ich geradezu auf sie zu, riss sie vom Boden und wickelte mich in sie ein. Sie stank erbärmlich. Doch sie hielt mich warm. So „gekleidet“ konnte ich mich dem nächsten kleineren Problem widmen: Ich sollte schnellstmöglich zur Gruppe zurückfinden.
Ich lief jetzt bereits seit drei Stunden. Ich wusste nicht woher, aber irgendwie spürte ich, in welche Richtung ich laufen musste. So dauerte es auch nicht allzu lange, bis ich ein Lagerfeuer in der Ferne entdeckte.
Zunächst rannte ich drauf zu, doch als ich näher kam wurde mir bewusst, dass ich keinesfalls sicher sein konnte, dass es auch meine Freunde waren. Also schlich ich mich näher an das Lager heran.
Ich sollte zum ersten Mal seit langem wieder Glück haben: Es waren meine Freunde.
Sie schliefen allesamt, lagen kreisrund um das Lagerfeuer herum.
Es war ein seltsames Gefühl. Irgendetwas schüttelte mich durch. Mir wurde schwindelig und ich schloss meine Augen. Als ich sie wieder öffnete, traf mich fast der Schlag.
Ich befand mich noch immer an der gleichen Stelle in der Nähe des Lagerfeuers. Doch alles war riesig groß selbst die Grashalme, die neben mir standen waren größer als ich selbst.
Ich war geschrumpft.
Plötzlich hörte ich eine Stimme aus der ferne: „Du kannst den Menschen Träume einflüstern. Nutze deine seltene Gabe.“
Es dauerte eine Weile, bis ich mich entschieden hatte, was ich als nächstes tun wollte.
Langsam ging ich auf Matze zu, stieg wie selbstverständlich in seinen Kopf und flüsterte ihm den Traum zu.
Stille zog sich über das Land.
Alles schien nur zu Warten. Warten auf ein Ereignis, dass der Ewigkeit würdig wäre.
Es sollte kommen, schneller als es die Menschheit es zu berechnen oder auch nur zu hoffen vermocht hätte.
Zunächst kam es schleichend. Ein Schatten zog sich über die Lande.
Tausende von Kilometern sollten schließlich von dem leichten grau überdeckt sein, welches sich nun mal bildet, wenn der Schein der Sonne auf Widerstand trifft.
Der Schatten hatte, was aufgrund seiner Größe jedoch kein irdisches Lebewesen bemerken sollte, Ähnlichkeit mit einem menschlichen Körper. Dem einer Frau. Doch er war makellos. Von einer Perfektion, die den Irdischen auf ewig verwehrt ist.
Und die Spitz zulaufenden Ohren zeugten deutlich davon, dass es kein Abbild einer der Niederen war.
Dann teilten sich die Felsen. Plötzlich und ohne die geringste Vorwarnung.
Das Eherne Schwert (1) brach einfach entzwei. Der Anblick dieses monumentalen Wunders lies seinen Atem stocken. Sein Herz schlug wie von schwarzer Magie endlos beschleunigt. Von der Sorte Magie, welche die heilige Inquisition seit Jahren versuchte auszurotten.
Dann schritt sie aus den Felsen. Unter normalen Umständen hätte er laut losgelacht.
Er schätzte ihre Größe auf gerade einmal ein eindreiviertel Schritt.
Allen irdischen Naturgesetzten zum trotz war es doch ihr Schatten gewesen der das Land mit Dunkelheit überzogen hatte.
Sie war wunderschön. Von einer derart göttlichen Perfektion, die den Männern jegliche freien Gedanken raubt. Sie war ein perfektes Abbild Rahjas (2), der Liebesgöttin, herabgefahren auf die Erde um die Menschheit die Freuden der Göttin zu lehren.
Sie trug nichts als ein durchscheinendes rotes Seidenkleid, das ihren vollkommenen Körper mehr betonte, als dass es ihn verbarg.
Dann bemerkte er seinen Irrtum. Es war eine perfekte Maske. Niemand würde es bemerken. Doch er hatte ihre Augen gesehen. Und er kannte diese Augen. Es waren Tills Augen. Er war zurückgekommen um ihn zu richten.
Es sollte das letzte sein, was er in seinem kümmerlichen Leben dachte.
Till, oder Sartassa, wie ihr Name jetzt lauten sollte schritt endgültig durch die Unsichtbare Wand der Welten. Man konnte ein schadenfrohes Lächeln über ihr makelloses Gesicht huschen sehen. Sie war gekommen, um die Welt der Menschen zu verderben.
Plötzlich wurde ich aus Matzes Kopf herauskatapultiert und weit weggeschleudert. Matze schrie wie am Spieß. Die anderen fuhren genauso wie er hoch und starrten ihn an. Manche sagten etwas, die anderen blieben stumm.
„War wohl nur ein Traum“, murmelte Matze.
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich wieder meine natürliche Größe zurückerlangt hatte. Und ich war wieder, wie sollte es auch anders sein, nackt. Die Decke lang einige Meter entfernt von mir im Gras.
Als die anderen mich bemerkten reagierten sie, wie es ihnen wohl keine verübeln kann. Einige fuhren erschrocken hoch, andere starrten mich nur mit weit geöffneten Mündern und Augen an.
Nach einiger Zeit, hatte sich zumindest ein Teil wieder gefasst und redete wie wild auf mich ein. „Wir dachten du wärst tot!“, „Wo kommst du auf einmal her?“, „Wie ist das Möglich..“, diese und weitere Sätze erschallten nun rings um mich.
„Beruhigt euch doch erst mal“, sagte ich, „gebt mir was zum anziehen und ich erzähle euch alles.“ Es sollte auch eine gute Gelegenheit für mich sein, meine Erlebnisse zu verarbeiten.
Eine Fliege schwirrte um Clemens herum. Es klatschte. Die Fliege war tot, bevor sie den Boden berührte (3). Es war nun knapp eineinhalb Stunden her seit ich den Anderen die wohl aufregernste Geschichte meines Lebens erzählt hatte. Und noch immer hatten sich bei weitem noch nicht alle gefasst. Wie auch? Ich selbst hatte ja noch nicht einmal einen Bruchteil meiner Erlebnisse verarbeitet.
Plötzlich sah ich in der ferne zwei Schatten, ich sah sie nur kurz und sie verschwanden genauso schnell, wie sie erschienen waren. „Was ist?“, fragte mich Matze, der meinen Blick bemerkt hatte. „Nichts“, antwortete ich und ich glaubte zu diesem Zeitpunkt auch noch fest daran, dass ich mir das nur eingebildet hätte.
Erklärungen:
(1) Großes Gebirge in Aventurien (Das Schwarze Auge)
(2) Liebesgöttin der Zwölfe (Das Schwarze Auge)
(3) Insiderwitz für alle die Ice Station gelesen haben