Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht. Der Anfang von Heinrich Heines mit „Nachtgedanken“ überschriebener Ode an die Mutter und die Heimat kommt mir irgendwie in den Sinn, wenn ich in letzter Zeit den Blick auf mein nördliches Nachbarland richte. Wohl nie hat im „Wirtschaftswunderland“ nach Wahlen eine solche Katerstimmung geherrscht. Hatte man vor der Wahl glauben können es werde nicht viel ausmachen welche Regierung in den nächsten vier Jahren die Geschicke Deutschlands lenken werde, greift nun allgemeine Ernüchterung um sich. Die Kluft zwischen Versprechen und Wirklichkeit ist derart groß, dass sich mancher Wähler fragt ob er denn mit Blindheit geschlagen war, oder ob die Einlullungs-Maschinerie so gut funktionierte dass sie seinen Realitätssinn schwinden liess.
Die Medien überbieten sich in negativen Schlagzeilen. Vom Kranken Mann Europas ist die Rede, das Land stehe am Abgrund, kann man lesen, der gescheit tönende aber unsinnige Vergleich mit Weimar wird strapaziert: Deutschland zelebriert die „Lust am Untergang“. Das war vor vier Jahren anders. Im Oktober 1998 orteten in einer Umfrage 52% der Bevölkerung politische Aufbruchstimmung, vier Jahre später waren es bloß 21% und vermutlich wären es noch weniger wenn man die Frage heute stellte.
Kritik wird nicht nur von jenen geübt, die die rot-grüne Regierung nie gewollt hatten und nun enttäuscht sind. Sonst wäre am Unmut nichts Besonderes. Diesmal ist die Unzufriedenheit umfassend und nicht an eine bestimme Partei gebunden. Das gilt vor allem hinsichtlich der Wirtschaftspolitik. Die fünf Weisen etwa, von denen drei SPD-Mitglieder sind, fällen über sie in ihrem Herbstgutachten ein vernichtendes Urteil. Und Bundesbankpräsident Welteke, kein Mann der Opposition, drückt sich in seinen Reden zwar diplomatisch aus, aber auch seine Botschaft ist klar. Auf eine Kurzformel gebracht, lautet der Vorwurf an die Regierung, ihre Marschroute sei „wachstumsfeindlich“. So formulierte es beispielsweise Rolf Breuer, Aufsichtsratvorsitzender der Deutschen Bank, unlängst an einem Symposium des Bundesverbandes deutscher Banken in Berlin.
Im Visier stehen vor allem die Steuerpläne. Die neue Regierung bittet zur Kasse, und das ungeniert. Je nach Zählung kommt man auf über 50 Steuererhöhungen bzw. neue Steuern, davon mehr als die Hälfte zulasten der Unternehmen. Zu reden geben die Steuerpflicht für Veräusserungsgewinne, die Einschränkung der Eigenheimzulage, die nun von Kanzler Schröder offenbar doch verworfene Vermögenssteuer, die Begrenzung der Verlustverrechnung und die Mindestbesteuerung der Unternehmen. Wenn Rot-Grün mit den Absichten Ernst macht, ist das zwar nicht gerade ein Frontalangriff auf das freie Unternehmertum, wie aufgebrachte Wirtschaftskreise behaupten, aber es wird Deutschland nicht auf die Beine helfen – im Gegenteil. Kaum etwas kann unternehmerisches Vertrauen so zerstören und die Investitionsfreude so lähmen wie eine ständige steigende Steuerbelastung. Neben den Inhalten gilt die Kritik der Art und Weise, wie die Regierung Politik betreibt. Statt Kohärenz vermitteln die Vorschläge und das bisherige Agieren ein Bild konzeptionsloser „Flickschusterei“. Mit aktionistischem Hin und Her wird versucht die tiefe Ratlosigkeit zu verstecken. Das schafft Unsicherheit.
Sosehr die gegenwärtige Enttäuschung verständlich ist, würde man Schröder und seinem Team doch Unrecht tun wenn man sie für den heutigen Zustand Deutschlands allein verantwortlich machte. Das einst dynamische Land ist nicht erst seit vier Jahren oder gar erst seit zwei Monaten verkrustet, es ächzt nicht erst seit Rot-Grün regiert unter zu hohen Steuern und es war 1998 nicht etwa schuldenfrei. Die Misere herrscht seit mindestens zehn Jahren. Sie ist Teil des „Erbes der Ära Kohl“, und sie beruht nicht in erster Linie und schon gar nicht ausschliesslich auf der Wiedervereinigung und deren gravierenden ökonomischen Fehlern. Deutschland krankt vielmehr seit langem an bleierner Reformunfähigkeit, die unter anderem mit institutionellen Widrigkeiten wie einem falschen interpretierten Föderalismus zu tun hat, vor allem aber mit einer Mentalität hartnäckiger Besitzstandwahrung. Dazu wiederum haben Politiker aller Couleur beigetragen, indem sie – so auch im letzten Wahlkampf – unbequeme Wahrheiten verneinten, den Glauben nährten es werde schon irgendwie gehen, und politische Entschlossenheit vermissen liessen. Je länger der Reformstau dauert, je mehr die Probleme zunehmen, je dringlicher der Handlungsbedarf wird, desto sichtbarer wird das Versagen der Politik. Ein wenig ist die Regierung Schröder Opfer dieser Konstellation. Sie hat gewissermassen das Pech, dass angesichts der Herausforderung kleine Schritte – selbst solche in die richtige Richtung – nicht mehr genügen.
Das gilt vor allem für drei Bereiche: den Arbeitsmarkt, den Staatshaushalt und die Sozialpolitik. Seit Jahren predigen nationale und internationale Experten, was zu tun sei aber es geschieht nichts, zu wenig oder das Falsche. Zu Recht hatte Roman Herzog als Bundespräsident in seiner berühmten „Ruck“-Rede im Hotel Adlon ein Umsetzungsproblem – und nicht etwa ein Erkenntnisproblem – diagnostiziert.
So sprechen offiziell 4 Mio. bzw. gemäss Sachverständigenrat sogar rund 5,5 Mio. Arbeitslose – und das seit Jahren – sowieso entsprechend enorme Ausgaben für Arbeitslosen- und Sozialhilfe fürwahr eine deutliche Sprache. Gemessen daran sind die Vorschläge der Hartz-Kommision ein Tropfen auf den heißen Stein. Not täten eine völlige „Entkrustung des Arbeitsmarktes“, produktivitätsgerechte Lohnkosten für geringe Qualifizierte und Anreizstrukturen, die (deklarierte) Arbeit finanziell attraktiver machen als Arbeitslosigkeit. In Sachen Steuern hat die Regierung mit der Reform 2000 vor zwei Jahren immerhin ein richtiges Zeichen gesetzt. Mit der Verschiebung der Stufe II ins Jahr 2004 und all den geplanten Ad-hoc-Steuererhöhungen wird indessen vieles wieder zunichte gemacht werden. Außerdem bliebe Deutschland steuerlich selbst nach der Umsetzung der Reform einem Spitzensatz der Einkommenssteuer von 42%, mit einer Steuer- und Abgabenquote in derzeit gleicher Höhe und einem komplizierten und leistungsfeindlichen Steuersystem unattraktiv. Auch hier ist klar, was zu tun wäre.
Am schwierigsten, aber zugleich wichtigsten sind die Reformen im Sozialbereich. Würde man die ungedeckten Renten- und Pensionsversprechen zur Staatschuld dazurechnen, stiege diese um mehr als 100% des Bruttoinlandprodukts. Da ist es mit einer leichten Erhöhung des Beitragssatzes da und etwas Kosmetik dort nicht getan; die demographische Zeitbombe wird, wenn sie nicht rechtzeitig durch eine Reduktion der Rentenansprüche und den Übergang zu einem stark auf Kapitaldeckung ruhenden System entschärft wird, früher oder später explodieren. Desgleichen muss man in der Krankenversicherung weg von den einkommensabhängigen hin zu stärker risikoäquivalenten Beiträgen oder zu Kopfprämien kommen.
Obwohl diese Strukturprobleme nicht einzigartig, sondern in vielen symptomatisch für den Kontinent sind, muss einem Deutschland dennoch eher den Schlaf rauben als andere Länder; Seine Probleme sind noch gravierender als anderswo und die Reformunfähigkeit scheint wesentlich ausgeprägter. Vor allem aber hängen Wachstum und Wohlstand des ganzen Kontinents von Deutschland ab. Wenn es das wirtschaftliche Schwergewicht nicht schafft seine Probleme zu lösen, wird darunter ganz Europa leiden.