fruchtoase schrieb:
Hmm... dauert also ewig...
Wie lange hat es gedauert bis das Wort Handy fest im deutschen Sprachgebrauch verankert war?
Das ist ein Wort für einen Gegenstand, den es vorher nicht gab. In solchen Fällen ist die vernetzte, konsumorientierte Normierungsgesellschaft natürlich schnell auf einem gemeinsamen, zeitgeisttypischen Nenner. Das ist aber nicht der Wort
wandel, sondern die Wort
entstehung. Der Wortwandel geschieht im Normalfall durch massenhafte Wandlung, bei der vom einen Augenblick zum nächsten scheinbar gar keine Veränderung eintritt. Vor 500 Jahren gab es beispielsweise noch das Wort "frôwe", das Frauen aus dem höfischen (aristokratischen) Bereich bezeichnete. Es gibt keinen Zeitpunkt in der Literaturgeschichte, wo jemand daraus das Wort "Frau", das zu allem Überfluss auch noch etwas anderes bedeutet, gemacht hätte. Das ist der graduelle Wandel, der Ewigkeiten dauert und nie abgeschlossen ist. Deshalb gibt es zu jedem Zeitpunkt in Gesellschaften Konventionen (bzw. deshalb kann es sie überhaupt geben, und ohne sie gäbe es die Gesellschaften nicht), die die Bedeutung eines Wortes ungefähr eingrenzen. Von "Fehlern" kann aber nicht die Rede sein, sondern nur von misslungenen Kommunikationsversuchen, weil verschiedene Vorstellungen von der Bedeutung vorlagen. Denn die Bedeutung, die jemand einem Begriff gibt, ist bei jedem Menschen unterschiedlich - die Größe des Unterschieds wird durch die Konventionen gegeben, aber eine Garantie für Gleichbedeutung gibt es nicht. Bedeutungen gibt es nicht, man kann sie nur willkürlich setzen und hoffen, dass die anderen das, was man definiert hat, auch zur Bedeutung zählen und wissen, dass man das meint. Darum braucht es Begriffsklärungen, die so weit gehen, bis man glaubt, von den gleichen Dingen zu sprechen. Von "Fehlern" kann man da aber nicht sprechen, sonst wäre ja jede Metapher ein Fehler. Es ist eher eine Unschärfe, aus der sich ein Gebilde aus Möglichkeiten ergibt.
Daraus folgt dann, was ich hier herausstellen möchte, nämlich dass der für wissenschaftliche Zwecke definierte (=konventionalisierte) Begriff "Antisemitismus" nicht einfach nur "Judenfeindlichkeit" bedeutet, sondern vielleicht also auch mehrere Bedeutungen hat. Eine Bedeutung mag nichtssagend sein, die die ich verwende bietet hingegen eine Zuordnungsmöglichkeit und ist gleichzeitig identisch mit der "Feindschaft" gegenüber Juden, allerdings erweitert sie den Antisemitismus auf den unterbewussten Bereich und verallgemeinert ihn zur Massenneurose, an der das Individuum erschreckend wenig Anteil hat. Weiter unten gehe ich darauf ein, jetzt erstmal geradlinig weiter im Dienste der Lesbarkeit.
Es ist nicht unüblich, dass Wissenschaften Begriffe aus dem Alltag anders definieren oder dass die gesellschaftliche Konvention sich wandelt. Deshalb ist mir unverständlich, warum einige Organisationen sich nicht bemühen, den Begriff mal der Öffentlichkeit aktiv vorzustellen. In diesem konkreten Fall ist es so, dass der Begriff auch die Ausdrucksformen und Konventionen beinhaltet, die man geistesgeschichtlich erforscht hat (hier geht's also weiter): Die Vorstellung, dass Juden magische Macht besäßen; allerlei Zuschreibungen von charakterlichen Eigenschaften; und so weiter. Man hat weitergeforscht, wie diese Formen gesellschaftlich überliefert und dem jeweiligen Zeitgeist angepasst wurden: Im späten 19. und im 20. Jahrhundert wurde zum Beispiel die Magie durch einen anderen Fetisch ersetzt, das Geld nämlich. Und so kam dann der jüdische Kapitalist ins völkische Bewusstsein, das "raffende" (Bank-)Kapital wurde dem "schaffenden" gegenübergestellt und die historische Entwicklung des Weltmarkts mit all seinen Folgen wurde ebenfalls für jüdisch, also für "okkult" erklärt. Und weil die russische Revolution ebenfalls damit zu tun hatte, waren dann daran auch gleich "die Juden" schuld, die sich angeblich der Bolschewisten bedienten, um ihre Weltherrschaft (Die Weltherrschaft der Juden - deren eigentliche Waffe ja das Geld sei!) zu errichten. Aus dieser umgewandelten Angst gegenüber der kapitalistischen Entwicklung wurde mal gefolgert, dass der Nationalsozialismus eine Äußerung von "Angst gegenüber der Moderne" sei, diese Folgerung zerschellte aber an der Industrialisierungsfreudigkeit des Nazi-Regimes, das sich für Lippenbekenntnisse zum "schaffenden Kapital" selten zu schade war. Ich finde den Ansatz am plausibelsten, der in der extremsten Äußerungsform des Antisemitismus den destruktiven Versuch sieht, die vom deutschen Volk unkontrollierbaren, als der (subjektlosen, aber mit den Juden identifizierten) Ökonomie unterworfen betrachteten Verhältnisse (nicht vergessen, Krisenzeit!) projektiv und destruktiv (also durch die Zerstörung dessen, was man mit ihr identifiziert) zu entsorgen. Vor dem Hintergrund erklärt sich dann vielleicht auch, warum ich angesichts der heutigen Parallelen (Spekulationsblasen anstatt echter Mehrwertschaffung, Arbeitslosenzahlen und Entwicklung wie zu Weimarer Zeiten, Ende der Fahnenstange beim "deficit spending", das das Wirtschaftswunder so lange am Leben gehalten hat) ein wenig nervös bin, wenn die Tendenzen in den Statistiken wieder vom Boden abheben. Das muss ja nichtmal in Deutschland stattfinden - in Afrika und Nahost sind die Phänomene schon längst wieder an der Tagesordnung, allein, dort wehren sich die Gefährdeten weitaus verbissener als seinerzeit in Deutschland - zum Teil aus den gleichen Motiven wie ihre Feinde. Neurosengeschichte wäre das dann.