Müller

Onkel_Bill

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1 - Surrealer Müller

Ein Labyrinth aus endlosen Phrasen, Schmerzen und ermüdender Leere. Quälende Inspriation trotz
Enthaltsamkeit, das Aneinanderreihen scheinbar unkausaler Zusammenhänge und ein verwirrendes
Rebellieren, bedingt durch spröde Müdigkeit am Montag. Morgens. Müllers Hirn. "Kaffee", stammelte Müller, als er im Büro stand. "Kaffee". Der universelle Muntermacher, dass was Müller
nach einem durchzechten Wochenende wirklich brauchte. Dieses braune Gesöff literweise schlucken und dabei richtig wach werden. Den Kater vergessen, der seine Krallen beständig in die Kopfhaut Müllers schlug. Durch Kaffee.

Müller schlich zum Automaten, der Wundermaschine oder dem Heilsbringer an jenem Morgen. Jemand war so nett gewesen, die Prozedur, das alltägliche Ritual einzuleiten und Wasser, sowie Filtersätze zur Verfügung zu stellen. Filzläuse? Müller dankte im Stillen und vollendete. Nach kurzer Zeit, in der Müller an
seinen Fingern spielte, sickerte das Gebräu in die kleine Kanne auf der Plattform. Langsam, wohlriechend. Müller schaute abwechselnd auf seine Finger und den Kaffeeautomaten. Immer und immer wieder bis seine Medizin fertig war. Heute waren die Kopfschmerzen wieder besonders stark, in Anbetracht der
Menge an Bier, die er und seine Freunde gebechert haben, aber doch nicht so schlimm. Gerade wollte er seine Lieblingstasse fluten, die mit den roten Blumen und seinem Namen, der
unauffällig auffällig an der Seite der Tasse schimmerte, als eine weibliche Stimme hinter seiner Schulter ertönte. "Kann ich auch etwas haben?" Müller verdrehte die Augen, die Schmerzen pulsierten wieder kräftig unter seiner Schädeldecke. "Wenn es sein muss, du Schlampe", hörte er sich sagen.
Dabei spielte er erneut mit seinen Fingern und kratzte sich lässig im Genitalbereich. "Was haben Sie gesagt, Herr Müller?", erklang die Stimme, spürbar unsicherer. Müller verzog den Mund
zu einem blutleeren Faden und brummte: "Sicher, Frau Schmidt. Nehmen Sie sich eine Tasse." Frau Schmidt, die Erstsekretärin nickte anerkennend und nahm sich eine Tasse. Müller schaute ihr
angeekelt nach und fasste sich an die Schläfe. Er nippte an seiner Tasse. Der Kaffee war stark wie immer, durchströmte die schlaffen Glieder und hauchte dem Angestellten sofort neue Kraft in den ausgelaugten Körper. "Erfrischend", vermerkte Müller und rümpfte die Nase. Er hatte sich die Zähne nicht geputzt, kam folglich gerade erst aus der Kneipe und spürte mit der Wärme erst auch die fettige Schicht auf seiner Haut. Er roch, wie er erst jetzt feststellte, nach billigem Zigarettenrauch, billigem Bier und Erbrochenem, dessen Überreste auf der schwarzen Jacke Müllers aufgrinste. Müller lächelte müde, fasste sich und schlenderte
zu seinem Schreibtisch. Er war mit den Sekretärinnen als erster Angestellter im Büro, da er die Nacht nicht geschlafen hatte und nach der Zeche direkt hierherkam. Der Computer piepste verschlafen, als Müller den Einschaltknopf betätigte und fuhr mit einem monotonen Summen in die Benutzeroberfläche.
Müller starrte regungslos auf den Bildschirm. Die Strahlung des Monitors brannte in seinen Augen und er musste sich erstmal in Gedanken zur Ordnung berufen. Was ihn natürlich nicht daran hinderte, im nächsten Augenblick gehörig einen fahren zu lassen, der sich genüsslich mit dem Geruch seiner ungewaschenen Kleidung paarte. "Eau d'Homme", flüsterte Müller und starrte weiter regungslos vor sich hin, um dann im nächsten Moment in prustendes Lachen auszubrechen. Er lobte sich für seinen
Sinn für Humor und für seine Französischkenntnisse, die Pointe war ein noch gewaltigerer Furz. Müller verlor fast die Beherrschung, vergaß den Schmerz, seine Übelkeit und seine innere Unausgewogenheit. Er lachte. Und vergaß. Sonst vergaß er immer mit einer Flasche Wein oder einem Fass Bier. Mit Lachen
hat er es noch nie versucht. "Mäßigen Sie sich, Herr Müller!", durchschnitt die scharfe Stimme die Harmonie, die Müller durch seinen unglaublichen Schöpfergeist zuvor aufgebaut hatte.
Frau Schmidt machte böse Miene zum guten Spiel und stemmte die Fäuste kampfeslustig in die beleibteren Hüften. "Herr Müller! Und wie riechen sie überhaupt!" Sie sog die Luft förmlich in sich hinein, um dann die Nasenflügel unter Ekel beben zu lassen.

Müller stand auf und blies ihr seinen abgestandenen, säuerlichen Atem ins Gesicht. Dabei grinste er breit. Die Sekretärin schnitt eine Grimasse, fuchtelte mit den Händen vor ihrem Mund herum und verließ aufgebracht den gemeinsamen Arbeitssal. Müller kreischte vor Belustigung und rülpste laut. Danach trank er den heißen Kaffee in einem Zug leer und warf die Tasse auf seinen Schreibtisch. Der Kopfschmerz meldete sich durch einen Bärentanz im Geiste Müllers zurück. Er setzte sich. Wartete.
 
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Müller saß wie gewohnt an seinem Schreibtisch. Die Vorfälle in der Frühe verdrängend, vom Kaffee auf Aspirin und Mineralwasser umgestiegen. Müller zweifelte an sich und der Welt.
War es rechtens, was er am Morgen getan hatte? Würde der Herr Unternehmensleiter später nicht doch um ein persönliches Gespräch bitten? Müller wusste keine Antwort und verzog
das Gesicht. Sein Schädel schmerzte. Das war wohl die letzte Party, die er zu feiern gedachte. Ekel keimte in ihm auf, als er an das kitschige Ambiente der Kneipe dachte. Nein, da würde
Müller nicht mehr feiern. Nie wieder! Er nahm hastig noch ein Aspirin, das Dritte an diesem verfluchten Tag und spülte es mit einem herrlich prickelnden Schluck Mineralwasser in die Magengrube. Müller seufzte beruhigt und wollte sich nun auf die Arbeit konzentrieren, die sich auf seiner Festplatte stapelte. Der Schreibtisch war frei von jeglicher Unordnung. Das Einzige in Müllers Leben, das nicht mit Problem anfing und mit Problem aufhörte. Der sauberste Schreibtisch der Firma, aus schöner Eiche. Alt. Ein Erbstück seines Onkels, der im Betrieb schon gearbeitet hatte, als Müller noch in die Windeln schiss.
"Müller, Müller.."

Der Angesprochene drehte sich erschrocken um. Der Leiter. In schwarzem Anzug, Sonnenbrille und Edelfüller - ihm gegenüber Müller in braunem Pullover, verfranzten Jeans und einem Reklamekugelschreiber. "Guten Tag, Herr Hoffmann. Ich wollte gerade.." "Die Pläne für das Projekt korrigieren? Müller, das hätten sie bis gestern erledigen sollen!" Ein schneidender Ton. Müller war fassungslos, obwohl er doch insgeheim wusste, dass der Chef richtig lag. "Bis gestern korrigieren, ja das stimmt", stammelte Müller und hätte sich hinter seiner Mauer aus Körpergeruch verkrochen, wenn diese nur nicht unsichtbar gewesen wäre. "Deswegen bin ich aber nicht hier." Die Stimme des Leiters wurde ausgesprochen kühler. "Frau Schmidt, meine getreue Sekretärin hat mir verraten, dass Sie sich äußerst
seltsam verhalten haben sollen." "Das kann ich ihnen alles erklären, Herr Hoffmann."
"Kommen Sie bitte mit in mein Büro." Hoffmann drehte sich auf den Absätzen seiner Lackschuhe herum, faltet die Hände hinter dem glattgebügelten Rücken und marschierte schnurstracks in sein Büro. Müller folgte wenig
elegant. Die Blicke der Kollegen waren für Sekundenbruchteile auf ihn gerichtet. Müller blieb kurz stehen, hob die Faust und streckte den Mittelfinger in die Höhe. Dann drehte er sich im Kreis und breitete die Ärme aus, als würde er Akklamation erwarten.
Mit den Worten "Ihr elenden Lackaffen" verließ er den Arbeitssaal und betrat dicht gefolgt von den ungläubigen Blicken des Kollegiums das Büro des Abteilungsleiters. Er fühlte sich schlichtweg miserabel.

"Setzen Sie sich, Herr Müller", befahl der Chef gleichgültig und wies mit einer Hand auf den braunen Ledersessel vor dem gewaltigen, gläsernen Schreibtisch. "Nein, ich stehe lieber." Müller war trotzig. Wie ein Kleinkind mit Migräne. Nur schlimmer.
Was hatte er den zu verlieren? Im Restrausch hatte er eben Unsinn gemacht. Aber dafür jetzt belangt zu werden, sah er nicht ein. Obwohl es doch der reinen Logik entsprach. "Setzen Sie sich!"
"Nein, ich stehe gerne." Gut, dann bleiben Sie meinetwegen stehen!"
"Andererseits", sagte Müller nachdenklich, "wollte ich doch mal wieder in einem solchen Sessel Platz nehmen", und setzte sich. Hoffmann sah ihn abfällig an und schnupperte plötzlich mit merkwürdigen Tönen. "Hier riecht es wie in einer Kneipe."
"Entschuldigung", erwiderte Müller und roch gekünstelt an seinem Pullover. Er wusste es. Er stank wie eine Kanalratte.
 
Irgendwie faszinierend, muss ich sagen. Reichlich inhaltslos eigentlich, aber trotzdem (oder gerade deswegen?) sehr interessant. Guter Stil.
 
Den Geruch vergessend, sah Müller mit entschlossenen Augen zum Chef. Dieser, tief in den modernsten Ledersessel eingesunken, drohte unter gigantisch wirkenden Polsterwellen zu verschwinden und kämpfte sich stets lächeld aus den schwarzen Massen hervor.
"Herr Hoffmann!", wollte Müller ansetzen, wurde aber von dem leiter mit einer mehr als deutlichen Geste unterbrochen. Er hatte die Hand szeptergleich erhoben und suchte verkrampft mit der anderen Müllers Personalakte, arbeitete sich nun mit galanten Hüftbewegungen, vergleichbar mit denen kubanischer Tänzerinnen, aus dem Stuhl und grinste immer noch breit, wobei es ihm scheinbar peinlich wurde.

"Da haben wir sie schon, Personalakte Bruno Müller." Den Namen verschluckte Hoffmann, ließ sich augenblicklich in die Fluten des Monsterstuhls sinken und schlug die braune Mappe,
nicht zu dick und nicht zu dünn, flink auf. "Sie sind dreißig Jahre alt, geschieden und arbeiten schon seit fünf Jahren für den Betrieb. Ist das korrekt?"
"Ja, das ist richtig." War Müller bei einem Strafverfahren gegen ihn selbst? Verwunderlich.
Hoffmann drehte in einer schwungvollen Bewegung den Sessel zur Seite und blickte nun
zur Tür. Rechts, neben Müller. "Ha! Sie haben private Probleme. Ihnen fehlt die Frau?"
"Wie kommen Sie darauf, Herr Hoffmann?!" Müller war nun sichtlich irritiert und spielte wieder mit seinen Fingern. Wie er es immer tat.
"Nehmen wir Frau Schmidt. Ja, Frau Schmidt. Haben Sie sie nicht als Schlampe tituliert, wie Claudia, Frau Schmidt, es mir unter Tränen" Hoffmann hob die Stimme und legte sich die
Hand auf die Brust, "gebeichtet hat? War es nicht so?" Er drehte den Stuhl wieder zu Müller und blickte ihm scharf in die Augen.
"Ja, kann schon sein. Ich war noch leicht beschwippst" Müller antwortete ehrlich, wenn auch mit leichten Bedenken und schmerzvollen Stichem im Kopf. War seine Aufrichtigkeit nicht zu gewagt?
"Ja, daß rieche ich, sie müffeln wie eine Kneipe in der Altstadt. Müller, ein untragbares Verhalten. Für den Betrieb. Für mich. Und Ihre Arbeiten erledigen Sie auch nicht weiter sorgfältig. Bei den letzten Meetings waren Sie nicht anwesend"
Müller stand abrupt auf: "Moment! Da war ich beim Scheidungsrichter!"
"Haben Sie sich entschuldigt?" Hoffmann lachte. "Nein, sonst würden Sie auch nicht Müller heißen."
Müllers Kopf war nun eine einzige Pauke, auf der ständig getrommelt wurde. Mit harten, schnellen Schlägen. Unablässig. Er setzte sich, das Pulsieren fand seinen Rhythmus.
"Sehen Sie den gläsernen Würfel da?" Hoffmann deutete auf ein gläsernes Konstrukt auf Glasschreibtisch. "Da, der da. Würfeln Sie mal damit." Er lachte schallend.
Müller ratlos: "Wieso?"
"Um des Spaßes Willen!"
Müller hob den Würfel mit Zeigefinger und Daumen übervorsichtig auf und schmiss ihn klirrend auf die Tischplatte. "Fünf", ermittelte er trostlos, übereinstimmend mit der geworfenen Zahl. Hoffmann sprang kraftvoll auf, schlug wie ein Irrer auf die Tischplatte, trommelte anschließend mit den Zeigefingern an der Kante und schaute Müller ununterbrochen in das verschwitzte Gesicht. "Entlassen", jubelte er, als hätte er seinen ersten Orgasmus erlebt. "Was?", wobei Müller das "s" ausgesprochen stark betonte.
"Entlassen, entlassen, entlassen!" Hoffmann drehte sich zweimal um die eigene Achse und sang seinen Entschluss förmlich die Tonleiter herauf und wieder hinab. "Entlassen!!"
"Sie haben mich gefeuert?" Müller war aufgestanden, langsam. Dann schnell. So daß die Haare im Wind des Ventilators flattern. Seine Stirn legte sich in Falten, seine Augen rutschten Zentimeter in ihre Höhlen und Müller verwandelte sich in irgendeiner Weise.
"Sie Blitzmerker, Sie!", scherzte der Abteilungsleiter und formte seine großen Hände zu Revolvern, die auf Müllers Brust zeigten. Ungeachtet der Gefahr.
 
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Gut. Die wirken alle ein bisserl psychisch labil, irgendwie interessant... Und was das nun mit dem Würfel wohl sollte - hm...
 
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